In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen
das der Gipfel der Leichtigkeit wird. Pettersen half mir. Wir unterhielten uns eine Weile über allgemeine Dinge und er meinte, dass wir in der »Fram« ein gutes Heim besäßen, weil wir alles hätten, was wir haben wollten; sie sei ein verteufeltes Schiff, jedes andere würde längst platt gedrückt worden sein. »Wenn ich«, sagte er, »alle die Hilfsmittel betrachte, die wir vorbereitet haben, wie z.B. diese neuen Kajaks, dann fürchte ich mich aber auch nicht, müssten wir das Schiff eines Tages verlassen!«
Dann sprachen wir noch darüber, was wir tun würden, wenn wir nach Hause kämen.
»Was Sie anbetrifft, so werden Sie ohne Zweifel nach dem Südpol reisen!«, meinte er.
»Und Ihr«, erwiderte ich, »wollt Ihr die Hemdsärmel aufkrempeln und Eure alte Beschäftigung wieder beginnen?«
»So wird’s wohl werden! Aber, weiß Gott, erst muss ich eine Woche Ferien haben! Nach einer solchen Reise muss ich sie unbedingt haben, ehe ich wieder zum großen Schmiedehammer greife!«
3 Auf den Tag genau zwei Jahre später lief die »Fram« Skjervøy an der Küste von Norwegen an.
DER ZWEITE HERBST IM EIS
Der Sommer war also vorüber. Unser zweiter Herbst begann. Wir hatten uns jetzt mehr an die Geduldsproben gewöhnt, die uns das Leben im öden Treibeis abverlangte. Die Zeit verging uns rascher. Außerdem war ich auch mit neuen Plänen und Vorbereitungen beschäftigt.
Ich habe schon erwähnt, dass wir im Lauf des Sommers alles für den Fall bereit machten, dass wir über das Eis heimkehren müssten. Wir hatten sechs Doppelkajaks gebaut, die Schlitten waren in Ordnung und es war sorgfältig berechnet worden, wie viel Nahrungsmittel, Kleidung, Brennstoff usw. wir mitführen mussten. Aber ich hatte in der Stille auch meine eigene Expedition nach Norden vorbereitet. Außer wenigen Worten zu Sverdrup hatte ich noch zu niemandem von meinem Plan gesprochen, da ich ja nicht wusste, wie weit nördlich die Drift uns bringen würde, und da sich vor dem Frühjahr noch vielerlei ereignen konnte.
Inzwischen ging das Leben an Bord seinen gewohnten Gang.
Donnerstag, 6. September. 81°13,7’ n.Br. Bin ich heute fünf Jahre verheiratet? Voriges Jahr, als die Eisfesseln bei der Taimyr-Halbinsel zerbarsten, war es ein Tag des Sieges. Jetzt ist kein Gedanke an Sieg. Und doch erscheint mir die Zukunft nicht bang und düster. Ist es möglich, dass am nächsten 6. September jede Fessel gesprengt ist und wir beisammensitzen und von unseren Fahrten im fernen Norden und von all unserem Verlangen plaudern wie von etwas, das einmal gewesen ist und nie wieder sein wird? Und was spricht dagegen, dass das im nächsten Jahre geschieht? Weshalb soll dieser Winter die »Fram« nicht nach Westen an einem Punkt im Norden von Franz-Joseph-Land bringen? …
Dann ist meine Zeit gekommen und ich mache mich mit Hunden und Schlitten auf nach Norden. Mir klopft das Herz vor Freude bei dem Gedanken daran. Der Winter wird mit den Vorbereitungen für eine solche Expedition schnell genug hingehen.
Ich habe mich in letzter Zeit schon immer mit diesen Vorbereitungen beschäftigt. Ich denke darüber nach, was alles mitgenommen werden muss und wie es einzurichten ist, und je mehr ich die Sache von den verschiedensten Seiten betrachte, desto fester bin ich davon überzeugt, dass der Versuch erfolgreich sein wird, wenn wir nicht zu spät im Frühjahr nach Norden treiben.
Wenn die »Fram« nur 84° oder 85° erreichte, würde ich mich Ende Februar oder in den ersten Märztagen aufmachen, sobald nach der langen Winternacht das Tageslicht kommt, und das Ganze würde wie im Tanze gehen. Nur noch vier oder fünf Monate, dann ist die Zeit zum Handeln gekommen. Welche Freude!
Wenn ich jetzt über das Eis hinausblicke, ist es mir, als ob meine Muskeln zittern vor sehnsüchtigem Verlangen, endlich einmal im Ernst über das Eis zu laufen – Ermüdung und Entbehrungen würden dann ein Vergnügen sein. Es mag töricht erscheinen, dass ich mich entschlossen habe, diese Expedition zu unternehmen, während ich mir vielleicht in aller Ruhe wichtigere Arbeit hier an Bord vornehmen könnte, aber die täglichen Beobachtungen werden auch ohne mich genau wie sonst angestellt.
Sonntag, 9. September. 81°4’ n.Br. Seit einigen Tagen ist die Mitternachtssonne verschwunden und die Sonne geht schon im Nordwesten unter; sie war gegen 10 Uhr abends fort und es liegt wieder eine Röte über dem ewigen Weiß. Der Winter naht rasch.
Sonntag, 31. Oktober. 82°0,2’ n.Br. 114°9’ ö.L.
Um den 82. Breitengrad zu feiern, hatten wir heute ein »großartiges Bankett«. Zu dieser Gelegenheit wurden Honigkuchen gebacken, Honigkuchen bester Sorte, wie man mir aufs Wort glauben möge, und dann kam nach einem erfrischenden Schneeschuhlauf das Festbankett.
Das Essen war prachtvoll: Ochsenschwanzsuppe, Fischpudding mit geschmolzener Butter und Kartoffeln, Schildkröte mit Zucker- und anderen Erbsen, Reis mit Moltebeeren und Krem, Kronen-Malzextrakt.
Nach dem Abendessen, das ebenfalls vorzüglich war, wurde Musik verlangt. Sie wurde den ganzen Abend in reichem Maße von verschiedenen, geübten Spielern geliefert. Pettersen und ich tanzten einen Walzer und eine Polka. Wir haben in dem beschränkten Raum einige sehr geschmackvolle Pas de deux ausgeführt. Auch Amundsen wurde von der Tanzlust fortgerissen. Die Übrigen spielten Karten; kurz, die Zeit verging und wir waren lustig. Weshalb sollten wir nicht? Wir schreiten ja fröhlich unserem Ziel entgegen, sind bereits auf dem halben Wege zwischen den Neusibirischen Inseln und Franz-Joseph-Land und keine Seele an Bord bezweifelt, dass wir das Ziel erreichen, um dessentwillen wir ausgezogen sind; es lebe daher die Fröhlichkeit!
Oben aber hat die unendliche Stille der Polarnacht die Herrschaft. Der Mond, halb voll, scheint auf das Eis herab, die Sterne erglänzen hell über uns und der südliche Wind streicht mit leichter Klage durch die Takelung.
Freitag, 26. Oktober. Gestern Abend waren wir auf 81°3’ n.Br.
Heute ist die »Fram« zwei Jahre alt. Allgemeiner Feiertag. Allgemeine Magenüberladung. Ich sagte beim Mittagsmahl: »Vor einem Jahr sind wir einstimmig der Ansicht gewesen, dass die ›Fram‹ ein gutes Schiff ist. Heute haben wir noch viel bessere Gründe für diese Überzeugung; denn sie bringt uns, wenn auch nicht gerade mit übermäßiger Schnelligkeit, so doch wohlbehalten und sicher weiter!« Wir tranken auf das Wohl der »Fram«.
Ich sagte nicht zu viel. Hätte ich alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, so würden meine Worte nicht so gemessen gewesen sein; denn, um die Wahrheit zu sagen: Wir alle lieben das Schiff so sehr, wie man unpersönliche Dinge nur zu lieben vermag. Und weshalb sollten wir sie nicht lieben? Keine Mutter kann ihren Jungen unter ihren Flügeln mehr Wärme und Sicherheit geben, als sie uns bietet; wir alle sind froh, wenn wir von draußen zu ihr zurückkehren, und wie oft hat mein Herz ihr nicht warm entgegengeschlagen, wenn ich weit fort war und ihre Masten über die ewige Schneedecke emporsteigen sah!
Ich sitze allein in meiner Kabine und meine Gedanken gleiten über die verflossenen beiden Jahre zurück.
Welcher Dämon ist es, der die Fäden unseres Lebens zusammenwebt, der uns täuscht und uns stets auf Wege hinausschickt, die wir nicht selbst gewählt haben, die wir nicht zu gehen wünschen? War es nur das Pflichtgefühl, das mich drängte? Oh nein! Ich war einfach ein Kind, das Abenteuer in unbekannten Gebieten suchte, das so lange davon träumte, bis es schließlich glaubte, es habe das Abenteuer wirklich gefunden.
Und es ist mir in der Tat beschieden, dieses große Abenteuer des Eises: tief und rein wie das unendliche All, die schweigsame, sternblinkende Polarnacht, die Natur selbst in ihrer ganzen Tiefe, das Geheimnis des Lebens, der unaufhörliche Kreislauf des Weltalls, das Fest des Todes, ohne Leiden, ohne Not, ewig in sich selbst. Hier in der großen Nacht stehst du in deiner nackten Einfalt, von Angesicht zu Angesicht vor der Natur; du sitzt andächtig zu Füßen der Ewigkeit und lauschst und lernst Gott kennen, den Mittelpunkt des Alls. Alle Rätsel des Lebens scheinen dir klar zu werden und du verlachst dich selbst, dass du dich mit Grübeln verzehrt hast; es ist alles so klein, so unaussprechlich klein …
Mittwoch, 14. November. Wunderbar sind die Schneeschuhfahrten durch die schweigsame Natur. Die vom Mondlicht übergossenen Eisfelder dehnen sich nach allen Richtungen aus. Hier und dort