Trostlose Vernunft?. Группа авторов
›privaten‹ und (im altgriechischen Sinne des Wortes) ›idiotischen‹ Leben überlässt.
Das von Habermas mehrfach wiederholte Eingeständnis ist bezeichnend genug, der im Grunde einzige Inhalt seines Projektes sei die schrittweise verbesserte Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung, die weit über das Politische hinaus rationalisierend in die sogenannte Lebenswelt eingreife, aber keinerlei Trost biete angesichts unserer vielzitierten Endlichkeit, mannigfaltigen politischen Scheiterns und der Verzweiflung angesichts des Versagens von Staat, Recht und transnationalen Organisationen – eines Versagens, das uns gegenwärtig drastisch vor Augen geführt wird, wo populistische Akteure jenseits und diesseits des Atlantiks erfolgreich auch den demokratischen ›Geist‹ eben der Institutionen von innen unterhöhlen, auf die viele ihre kosmopolitischen Hoffnungen gesetzt haben.
Das Eingeständnis der Trostlosigkeit sollte aber auch jedem eine Warnung sein, der ernsthaft glaubt, mehr versprechen zu können (ohne dabei Gefahr zu laufen, etwa in eine trivialisierte Beratungsphilosophie abzugleiten, die das Elend der Welt womöglich nur kaschiert). Vorläufig erlauben wir uns im Folgenden denn auch lediglich heterodoxe Nachfragen mit Blick auf von Habermas teils ignorierte, teils anders rekonstruierte Überlieferungen, aber auch mit Rücksicht auf praktische Herausforderungen der Gegenwart und einer Zukunft, der mit kommunikativer Rationalität allein, wie sie Habermas unentwegt verteidigt, nicht beizukommen sein wird.
In einer heroischen Denkbewegung versucht Habermas die griechische Metaphysik, ihre christliche Fortsetzung, die Renaissance, Kant, den Deutschen Idealismus und den nachfolgenden Aufbruch der Philosophie in Richtung einer terra incognita als Lernprozess zu verstehen, wobei zugleich fernöstliche Varianten der Achsenzeit mitbedacht werden. Habermas bleibt dabei vergangenheitsorientiert, während er zugleich bemüht ist, seine von ihm dargestellte Vergangenheit als Wissensvoraussetzung der Gestaltung einer universellen Zukunft nahezulegen. Dabei kommt Marxens Vision, dass das Reich der Freiheit nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt, allerdings zu kurz. Zugleich gebührt ihm das Verdienst, Philosophiegeschichte nicht bloß als Spur eines erloschenen Lebens zu beschreiben, sondern als Weg, den vielstimmiges Denken weiterhin selbst zu bahnen hat. Während der Grundkatastrophe des Ersten Weltkriegs verfasste 1917 der Lyriker Antonio Machado im am Krieg nicht beteiligten Spanien jenes bekannte Gedicht über den Weg:
Wanderer, es sind deine Spuren
der Weg, sonst nichts;
Wanderer, es gibt keinen Weg,
was Weg ist, entsteht gehend.
Gehend entsteht Weg,
und blickst du zurück,
so siehst du den Pfad,
zu dem du nie mehr zurückkehrst.
Wanderer, es gibt keinen Weg,
es gibt eine Kielspur im Meer.5
Machados Zeilen fassen auch die prekäre Lage des philosophischen Denkens zusammen. Das Vergangene wird Zukunft, die neu zu bahnen ist. Es kommt – als nicht-apokalyptische, sondern eher als im griechischen Sinn tragische Offenbarung – darauf an, dass man dessen innewird, was man zuvor bereits ohne Wissen innehatte.
Nachdem beide Autoren im Zuge eines über einjährigen Dialogs gemeinsam zu ermitteln versucht haben, wie heute der Krieg als Drohung zu verstehen ist6, setzen sie hier zum zweiten Male zu einer gemeinsamen, komplementären, aber mit Absicht nicht dialektisch synthetisierten Einschätzung der Gewalt der Gegenwart an. Weit mehr als Habermas beunruhigt uns diese Gewalt; und wir sind gemeinsam davon überzeugt, dass sie ›uns alle‹ betrifft und zur Auslotung künftig noch zu begehender Wege zwingt. ›Uns‹, das heißt: jeden einzelnen, jeden als Einzelnen, unverfügbar Anderen, und alle Menschen weltweit, die in ihrer unaufhebbaren Alterität dennoch zusammengehören – was sie wenigstens negativ vor allem die Gewalt lehren müsste, die sie in ihren politischen Verhältnissen derart heraufbeschwören, dass sie diese ganz zu ruinieren droht. Diese Sorge teilen wir mit Habermas. Anders als er aber haben wir heterogene, irreduzibel vielstimmige Überlieferungen im Blick, die dazu verhelfen sollten, diese Verhältnisse so weit wie möglich aufzuklären. Und wir sind uns mehr als Habermas dessen bewusst, dass das Denken dabei nicht umhinkann, von dem zu zeugen, was ihm inkommensurabel bleibt, ohne sich in Wissen oder Glauben ›aneignen‹ zu lassen.
Ob in Formen des Wissens, des Glaubens oder vernünftiger Freiheit, bei Habermas dient letztlich alles genau dem: der Aneignung, wie sein vielleicht wichtigster, aber auch verräterischster operativer Begriff lautet. Dieser zeigt verlässlich an, wo es an fälliger Distanz zur Last des so überaus gewaltträchtigen geistigen Erbes fehlt, das Habermas unentwegt für eine offenbar als vorbildlich betrachtete Rationalität genuin okzidentaler Herkunft in Anspruch nimmt. Was wir hier vorlegen, lässt sich in dieser Perspektive als Zwischenstation im Prozess weiterer Distanzierung verstehen, die weder diese Rationalität einfach verwerfen soll noch auch vergessen darf, was ihr inkommensurabel bleibt. Bedenken wir auch dies: Wenn uns Monate einer seit langem drohenden und dann betäubend peripher und zentral einsetzenden Pandemie inzwischen von uns selbst trennten, folgt dann aus Habermas und den hier vorgestellten Gedanken die Frage: Dass wir uns dort sammeln könnten, wo zuvor nur Ausweglosigkeit vermutetet wurde?
BL/BT, im September 2020
KAPITEL I
Geschichtliche Perspektiven ›heil‹-loser Vernunft
Jürgen Habermas’ implizite Geschichtsphilosophie – und was sie vermissen lässt
– Burkhard Liebsch –
Es steht außer Frage, daß keines der historischen philosophischen Systeme in der Lage war, [den geschichtlichen Menschen] gegen den Schrecken der Geschichte zu verteidigen.
Mircea Eliade1
Hier müssen wir, wider die mächtige Sprachlosigkeit, zu sprechen beginnen.
Peter Härtling2
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