Qualitätsunterschiede. Ralf Becker

Qualitätsunterschiede - Ralf Becker


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einfach hintergangen noch durch die Wissenschaften übertroffen werden kann.

      Die letztgenannte Grenze wird durch den bereits genannten praktischen Fundierungszusammenhang zwischen theoretischer und vortheoretischer Erfahrung deutlich, die erstgenannte durch die Möglichkeit der Übersetzung und der Verständigung zwischen verschiedenen Sprachen und kulturellen Praxisformen sowie durch die Ausbreitung technischer Erfindungen über Ländergrenzen hinweg. Auch wenn es zweifellos Wechselwirkungen zwischen der in Europa entstandenen modernen technisch-wissenschaftlichen Kultur und der lebensweltlichen Erfahrung gibt, so wird die Lebenswelt doch so lange nicht zu einer Kolonie jener Kultur, wie eine Verständigung über deren Eigensinn noch möglich ist. Die Tatsache des Redens über die Leonardo-Welt belegt die Gültigkeit des lebensweltlichen Apriori. Anders gewendet, das Faktum der Vermittlung impliziert die Vermittelbarkeit in einem seinerseits unmittelbar gegebenen Raum der Unterscheidung und Orientierung. Wenn im Folgenden von der Lebenswelt die Rede ist, dann im Sinne dieses intersubjektiv geteilten Raums von Erfahrungsweisen und Praxisformen (die Poiesis eingeschlossen), die zwar vor- und außerwissenschaftlich gewachsen, aber gleichwohl universalisierbar sind.

      Die vorwissenschaftlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher Theoriebildung umfassen neben dem Komplex aus Unterscheidungs- und Orientierungswissen sowie Argumentationspraxis auch technisches Know-how. Man verfehlt das Wesen moderner Naturwissenschaft, wenn man sie als theoretische Grundlage von Technik und diese bloß als deren Anwendung ansieht. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Naturwissenschaft ohne die Verwendung von Mess-, Rechen- und Experimentaltechnik arbeitsunfähig ist. Das Experiment ist keine Frage, auf die die Natur antwortet. Laboratorien sind durchweg künstliche Szenarien, die mit erheblichem Aufwand hergestellt und von Störungen reingehalten werden müssen. Valérys Aperçu, Wissenschaft sei die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren, die immer gelingen, trifft einen wesentlichen Punkt. Was wir über die Natur wissen, wissen wir durch die Zuverlässigkeit, mit der die im Experiment eingesetzte Technik innerhalb eines akzeptablen ›Konfidenzintervalls‹ die erwarteten Messwerte liefert. Natur ist demgegenüber, was diese Harmonie stört, was für unerwartete Ergebnisse sorgt, was Widerstand leistet. Die sogenannten Naturgesetze sind methodisch gesehen, wie Holm Tetens pointiert, »Apparategesetze«.63 Sie sind Handlungsanweisungen für den Experimentator: Tue das, und du wirst jenes erhalten.

      Auf den Qualitätsunterschied zwischen »normierender Regelung und kausaler Regelung« hat bereits Husserl in seinen Logischen Untersuchungen (1900) nachdrücklich hingewiesen. »Das Beispiel der Rechenmaschine macht den Unterschied völlig klar. Die Anordnung und Verknüpfung wird naturgesetzlich so geregelt, wie es die arithmetischen Sätze für ihre Bedeutungen fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physikalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze heranziehen.«64 Apparategesetze sind ein Fall von (Wissenschaftlerhandlungen) normierender Regelung, Naturgesetze ein Beispiel für kausale Regelung. Hier gilt es zunächst, die »mythische Rede von den Naturgesetzen als waltenden Mächten des natürlichen Geschehens« abzuwehren – »als ob die Regeln ursächlicher Zusammenhänge selbst wieder als Ursachen, somit als Glieder eben solcher Zusammenhänge sinnvoll fungieren könnten«.65 Die Reifikation von Naturgesetzen beruht auf einem Kategorienfehler, der Regeln und Ursachen auf eine Stufe stellt. Sodann muss beachtet werden, dass die kausale Regelung in der normierenden methodisch fundiert ist. Kausalzusammenhänge werden nicht einfach beobachtet, sondern empirisch gesättigt hergestellt. Die naturwissenschaftliche Exploration eines Kausalnexus verlangt die Befolgung normierender Regeln für das Wissenschaftlerhandeln bei der Konstruktion von Experimentalanordnungen.

      Als promovierter Mathematiker war sich Husserl darüber im Klaren, dass selbst der Mathematiker »in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut«.66 Auch seine ›Einsichten‹ sind von normierenden Regelungen abhängig, die seine Konstruktionen anleiten. Was es jedoch bedeutet, einer Regel zu folgen, lernt der Mathematiker nicht erst im Mathematikstudium, so wenig, wie der Experimentalwissenschaftler erst im Labor lernt, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Die Differenz zwischen normativen Regeln und Kausalzusammenhängen ist Teil jenes lebensweltlichen Unterscheidungs- und Orientierungswissens, das die Philosophie als Studium von Qualitätsunterschieden auf Begriffe bringt.

      Übersicht

      Die nachfolgenden Untersuchungen erinnern einige Unterschiede, die in der spätmodernen technisch-wissenschaftlichen Kultur gelegentlich verwischt werden. Seit dem Beginn der Neuzeit bestimmt das Bild, das Menschen insbesondere von den Naturwissenschaften haben, auch das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt machen. Das Rezept zum Erfolg der Physik als Normalwissenschaft im Sinne Kuhns liegt in der Quantifizierung und Digitalisierung ihrer Gegenstände, also in der Herstellung von Messbarkeit und Berechenbarkeit. Dieser Erfolg färbte nicht nur auf andere Wissenschaften ab, zuerst auf andere Natur-, dann auf Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern auch auf das Weltbild der von diesen Wissenschaften so stark geprägten Kultur. Die Selbstverständigung über diese technisch-wissenschaftliche Kultur benötigt deshalb eine »Hermeneutik der Zahl«.67 Denn das Paradigma der Mathematisierung mit den Spielarten von Quantifizierung und Digitalisierung tritt nicht nur in Zahlen und Algorithmen in Erscheinung. Es begegnet uns sozusagen subkutan auch dort, wo kategoriale bzw. qualitative Unterschiede zu graduellen bzw. quantitativen herabgestuft werden. Zahlen machen wie Geld Inkommensurables kommensurabel. Das normalwissenschaftliche Paradigma wirkt in bezug auf Qualitätsunterschiede entdifferenzierend.

      In diesem Sinn verstehen sich die folgenden Kapitel als Angebote zur Redifferenzierung. Kapitel 1 skizziert die Methodologie des bereits eingestandenen moderaten Kulturalismus, dem die Einzelstudien verpflichtet sind. Das in dieser Einleitung bloß Angedeutete erhält im Methodenkapitel schärfere Konturen. In den Kapiteln 2 bis 4 stehen wissenschaftsgeschichtliche Übergänge der fortschreitenden Mathematisierung der Wirklichkeit zu einer Welt der Maße im Mittelpunkt. Das Ziel ist dabei die Rekonstruktion des modernen Zahlenmythos, demzufolge nur dasjenige objektiv fassbar ist, was sich zählen oder berechnen lässt. Die Physik ist in der Neuzeit zum Vorbild nahezu aller Wissenschaften geworden. Am schwierigsten gestaltet sich das Mathematisierungsprogramm jedoch bei lebendigen Wesen. Kapitel 5 bis 7 behandeln daher den Eigensinn der Lebenswissenschaften. Auch wenn Teile der Biologie, wie die Genetik, erfolgreich mit mathematischen Methoden operieren, ist es unmöglich, den Qualitätsunterschied zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Objekten aus der Physik abzuleiten. Die Beziehungen zwischen den Wissenschaften werfen die Frage nach dem Verhältnis von Teilen und Ganzen auf. Denn nach einem weit verbreiteten Missverständnis beschäftigt sich die Physik mit den (kleinsten) Teilen, aus dem sich alles andere – unter anderem auch der Mensch – zusammensetzt. Kapitel 8 versucht sich daher an einer kleinen Mereologie, die zwischen Element und Ingredienz, Fragment und Komponente sowie Moment und Stück unterscheidet. Kapitel 9 korrigiert naturalistische wie kulturrelativistische Ontologien, die natürliche und kulturelle Tatsachen entdifferenzieren, und insistiert auf der Unterscheidung zwischen Methode und Sein. Das Schlusskapitel widmet sich der Ambivalenz der Mathematisierung. In dem Maße, in dem der Mensch die Natur mittels Messen und Berechnen beherrscht, steigert er zugleich das Bedürfnis nach dem Anderen des Vermessenen und Berechneten. So fördern paradoxerweise gerade Quantifizierung und Digitalisierung den Bedarf an Qualitätsunterschieden. Das vorliegende Buch ist insofern selbst Ausdruck dieser Ambivalenz.

      KAPITEL1

      Kulturphänomenologie als kritische


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