Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors. Richard Rost

Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors - Richard  Rost


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ihrer Schritte.

      Als sie den Wirt jetzt hilflos in seinem Erbrochenen sitzen sah, konnte Anna nicht anders. Sie holte Kübel und Putzlappen und begann, auf allen vieren die Holzdielen zu wischen. Während sie ihm so nahe kam, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte, stieg der vertraute Ekel in ihr auf und die ganze Demut war beim Teufel. »Stinkender Widerling!«

      Am liebsten hätte sie ihm die Brühe über den Kopf geschüttet, doch sie beherrschte sich, brachte den Kübel nach draußen, löschte alle Kerzen in der Stube und ließ den Alten weiterschnarchen. Dann hangelte sie sich erschöpft und müde die Treppen hoch in ihre Kammer. Sie wusch sich die Hände, öffnete ihre blonden Haare und setzte sich an das Tischchen. Liebevoll streichelte sie das Buch, das Georg ihr überlassen hatte: die »Confessio von der Erklärung und der Erkenntnis Christi«. Es war zu dunkel, um zu lesen, aber Anna freute sich allein daran, es zu fühlen. Das Buch war für sie ein Teil von Georg, es zeigte seine Zuneigung, vielleicht sogar seine Liebe. Sie faltete ihre Hände zum Gebet.

      Das irdische Leiden öffnet euch die Tür zum ewigen Leben. Seid demütig und duldsam, das ist der Schlüssel für das Himmelreich. Immer wenn es unten in der Stube besonders schlimm war, kamen ihr die Worte Caspars in den Sinn, mit denen Georg versucht hatte, sie zu trösten.

      »Lieber Gott, sei nachsichtig mit deiner Dienerin.« Aber muss denn mein Leiden so lang und so ekelerregend sein? »Erlöse mich von dem Übel, aber nicht mein Wille geschehe, sondern …« Anna schreckte auf. Es hörte sich an, als hätte jemand ein Steinchen an die Scheibe geworfen. Sie öffnete das Fenster.

      »Wach auf, mein Seel!«, kam es geflüstert von unten.

      »Lobsinge seinen Namen!«, antwortete sie freudig und augenblicklich war jede Müdigkeit von ihr gewichen. Sie lehnte sich aus dem Fenster. »Georg? Ist etwas passiert?«

      »Anna, hör zu, ich muss fliehen.«

      Sie wollte den Gedanken, dass Georg weggehen würde und sie hier in diesem elenden Loch veröden müsste, gar nicht zu Ende denken. Sie gehörte nun einmal dem Blärsch, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis er sie mit einem seiner versoffenen Stammtischbrüder verkuppelte. Ihr Entschluss fiel in Sekundenschnelle. Sie wandte sich dem schlichten Holzkreuz in ihrer Kammer zu. »Es ist göttlicher Wille! Du willst also, dass ich dieses Haus verlasse und mit deinem Prediger gehe!« Sie überlegte nicht mehr. »Georg«, rief sie in die Dunkelheit, »in Gottes Namen! Warte auf mich, bitte!« Anna zog ihren Kapuzenumhang über, nahm das Kreuz von der Wand, schnürte die wenige Wäsche, die sie besaß, zu einem Bündel und … Fast hätte sie das Wichtigste vergessen: das Buch. Sie nahm es, küsste es, schob es zwischen die Wäsche und stürmte aufgelöst die zwei Stockwerke hinunter, am Schankraum vorbei.

      »Du wirst mich nie wieder anfassen, du mieses, ekelhaftes Dreckstück!«, zischte sie dem schnarchenden Blärsch als Abschiedsgruß in die Stube. Es tat ihr gut, diese Worte wenigstens einmal auszusprechen. Vorsichtig schob sie den Riegel zurück, was nicht ohne Geräusch vonstattenging, und lief in die Nacht hinaus.

      »Georg«, flehte sie schon von Weitem und fiel ihm um den Hals, »bitte nimm mich mit, wohin du auch gehst. Ohne dich halt ich es hier nicht aus!«

      »Anna, es ist nicht so einfach!«

      Sie spürte, wie er sich aus ihrer Umarmung löste und sich seinem Pferd zuwandte. »Ganz ruhig, mein Brauner.« Der wiehernde Gaul, den es zu beruhigen galt, kam ihm anscheinend gerade recht. »Der neue Abt, Herr von Gravenegg-Burchberg, hat mich des Amtes enthoben, nachdem ich den ganzen Abend mit ihm gestritten hatte.« Seine Stimme klang besorgt. »Ich muss die Stadt noch vor dem Morgengrauen verlassen.«

      Endlich erwiderte er ihre Umarmung und Anna genoss es.

      »Ich habe es mir nach deiner Predigt am letzten Sonntag fast gedacht, als du die Gegenwart Gottes während der Wandlung infrage gestellt hast und daraufhin mehrere Ratsmitglieder unter Protest aus der Kirche gelaufen sind.«

      »Sie verstehen uns hier nicht. Darum ist die Entscheidung des Pfaffen nur konsequent. Ich bin ab sofort ein Flüchtling, Anna. Du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf.«

      Anna wusste, dass er sie mit all ihren Habseligkeiten nicht stehen lassen würde und alles Gerede nur eine Ausflucht war.

      »Die tägliche Unsicherheit, die Angst vor Verfolgung, Anna. Überlege es dir gut, ob du deine Heimat gegen das unstete Leben eines Prädikanten tauschen willst.«

      »Da gibt es nichts zu überlegen, Georg. Ich gehe mit dir. Alles, was bisher mein Leben hier erträglich gemacht hat, würde ohne dich absterben. Du hast mich auf den richtigen Weg geführt. Frag dich doch, wie Caspar an deiner statt handeln würde? Ich kann nicht mehr zurück zu den Pfaffen mit ihrem Hokuspokus. Gott hat mir durch dich die Augen geöffnet. Lass uns da hingehen, wo wir unter Gleichgesinnten miteinander leben können.«

      Während sie notdürftig ihre Haare zusammenband und ihr Bündel an einer der Satteltaschen befestigte, sah sie aus den Augenwinkeln Georg Mayer – den Prediger und Kämpfer vor dem Herrn, stattlich und eindrucksvoll, sonst nie um eine Antwort verlegen – wie zur Salzsäule erstarrt dastehen.

      »Was ist mit dir, Georg? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

      »Ich weiß nicht, Anna …«

      »Der Alte kommt, jetzt mach schnell!«, rief sie Georg zu.

      Geistesgegenwärtig erkannte dieser die Situation, saß auf und zog Anna mit einem Ruck hinter sich auf das Pferd.

      »Büttel, kruzitürkn, komm raus und hol mir dia Feel z’ruck, dia g’heart mir! Mein Lade kann i zuamacha, wenn des Luader die geile Böck nimma bediena duad«, lallte der Wirt, während Georg das Pferd antrieb.

      »Lass se gau, Gottl!«, schrie die Blärschin aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster. »Dia blond Hex hätt no viela Mannsbilder de Kopf verdräht!«

      »Jetzt ist auch noch die Alte wach geworden«, rief Anna Georg ins Ohr.

      Das Pferd trabte an und verlangsamte den Schritt erst kurz vor dem Illertor. Der Torwärter kam müde aus seinem Häuschen und ließ die beiden ungefragt passieren, zumal es ihm peinlich schien, im Schlaf erwischt worden zu sein.

      »Halt dich gut an mir fest!«, mahnte Georg. Genau das wollte Anna hören. »Wir wollen die Stadt schnell hinter uns bringen, und wer weiß, ob die Stammtischbrüder vom alten Blärsch nicht versuchen, dich zurückzuholen.«

      Anna legte vertrauensvoll ihren Kopf an seine Schulter und klammerte sich mit beiden Händen fest an ihn. Georg trieb das Pferd im Galopp in Richtung Norden.

      »Machen wir uns jetzt auf die Suche nach Caspar?«, fragte sie.

      »Ich brauche irgendwo eine Anstellung, nur mit dem Verfassen von disputationes kann ich nicht überleben. Aber vielleicht können wir das eine mit dem anderen in Verbindung bringen. Bei den Katholischen werde ich keinen Fuß mehr in die Tür setzen, das ist vorbei! Ich wollte eigentlich in die Reichsstadt Isny, wo Caspar eine treue Gemeinde hat, aber lass uns lieber gleich nach Ulm reiten, dort ist alles protestantisch. Da weiß man am besten, wo ich als Prediger oder Lehrer gebraucht werde.«

      »Egal, wohin du mich bringst, Georg, bei dir fühle ich mich geborgen.«

      »Also dann auf nach Ulm. Vielleicht bekommen wir dort Hinweise, wo sich der Meister aufhält.«

      Mit ihrem Retter hinaus in die Freiheit, weg vom Mief und Dreck und der drohenden Verkuppelung! Anna hätte die ganze Welt umarmen können, und das zeigte sie Georg. Sie genoss es, eng an ihn geschmiegt hinter ihm zu sitzen und seinen Herzschlag zu fühlen. Sie war glücklich. Das fahle Mondlicht beleuchtete die Straßen. Als sie fast eine Stunde durch die kalte Nacht geritten waren, verlangsamte Georg die Geschwindigkeit und hielt an einem Heuschober an.

      »Lass uns hier


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