Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen
war vollgestopft mit Terminen, dazu die Visite im Schloss. Und so lösten sich seine Gedanken an das Schicksal von Florence de Meli zwischen Keramikkronen und Goldfüllungen auf wie ein Hauch von Lachgas. Zurück blieb eine leichte Beklommenheit. Dabei war Newell Jenkins durchaus ein mitfühlender Mann, aber eben auch einer der besten Zahnärzte im Deutschen Kaiserreich. Für diesen Ruf arbeitete er hart, da blieb nicht viel Zeit für Sentimentalitäten.
Nur zwei Stunden später nahm Clara Jenkins Platz im Damensalon des Stadtkommandanten von Dresden. Oscar von Funcke war erst vor Kurzem zum wichtigsten Militär in der Residenzstadt befördert worden. Er wurde jetzt mit »Excellenz« angesprochen. Seine amerikanische Frau Minna gehörte damit endgültig zur gesellschaftlichen Spitze im Königreich. Zum Glück machte sich Minna nicht ganz so viel aus Titeln wie ihr Ehemann, der es dank seiner militärischen Karriere vom einfachen »Funke« in den Adelsstand geschafft hatte.
Mit ihren drei Kindern lebten sie in der Großen Klostergasse 11, in der Neustadt auf der anderen Seite der Elbe und ein ganzes Stück entfernt von der Seevorstadt, wo sich das Gros der Amerikanischen Kolonie niedergelassen hatte. Clara Jenkins war deshalb nicht ganz so oft bei Minna, obwohl sie sie sehr mochte. Doch das Schicksal ihrer gemeinsamen Freundin Florence verlangte heute ihren Einsatz. Viel Zeit blieb ihr nicht. Die drei Kinder, der Haushalt, am Nachmittag ein Teekränzchen – zum Glück konnte sie sich auf die Gouvernante und ihre Dienstboten verlassen.
Clara hatte Glück, Minna war tatsächlich zu Hause und begrüßte sie herzlich. »Das ist ja eine Überraschung, meine liebe Clara! So ein seltener Besuch.« Minna war das Gegenteil ihres Mannes und selten förmlich. Sie drückte Clara Jenkins so überschwänglich an sich, dass Clara Angst um ihren Hut bekam.
»Oh, Minna, ich konnte nicht länger warten. Es ist dringend.«
Minna von Funcke hielt inne. »Es ist wegen Florence, richtig?«
Clara nickte.
Minnas Gesicht wurde ernst. »Ich habe heute Morgen einen Brief von ihr erhalten. Er kam mit der Post.«
»Ich habe die Nachricht schon gestern erfahren. Wahrscheinlich hat das Dienstmädchen von Florry den Umschlag direkt bei uns abgegeben. Wir wohnen ja fast um die Ecke. Aber sag, Minna, ist das nicht entsetzlich, was sie schreibt?«
Minna biss sich auf die Unterlippe. »Glaubst du denn, dass sie recht hat?«
»Du etwa nicht?« Clara Jenkins riss erstaunt die Augen auf.
»Doch, im Grunde schon. Nur du weißt, wie oft sie Ärger mit Henri hat … Und Florry hat viel Fantasie.«
»Minna, hier, lies die Zeilen, schau dir die Schrift an! Das ist kein Fantasiegebilde. Das ist echt.« Clara schluckte. »Wahrscheinlich liegt sie gerade gefesselt zwischen lauter Verrückten. Vielleicht ist es dunkel, und wer weiß, was die anderen alles auf dem Kerbholz haben, wenn sie geisteskrank sind.« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Oh, unsere arme Florry. So fröhlich, so lustig. Und jetzt am Ende. Was schreibt sie dir?«
»Beruhige dich, Clara, sie schreibt nur, dass sie glaubt, von Henri und seiner Mutter abgeschoben zu werden. In so eine Anstalt. In dem Brief steht, dass sie fliehen will.«
Clara Jenkins war bleich geworden. Minna von Funcke läutete nach einem Dienstmädchen und bestellte zwei Gläser Sherry. »Zur Beruhigung. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren, sonst können wir ihr nicht helfen. Wo auch immer sie steckt. Warst du bei ihr?«
Clara Jenkins trank das Glas in einem Zug leer und schüttelte sich kurz. »Nein, Newell wollte gehen. Aber ich werde auf der Rückfahrt einen kurzen Halt einlegen. Vielleicht hast du recht, und es ist gar nichts passiert. Aber ich habe so ein ungutes Gefühl.«
Beide Frauen tauschten die Briefe aus und lasen sie. »Vielleicht ist sie tatsächlich getürmt. Oh, das wäre gefährlich. Aber auch aufregend!« Clara schloss die Augen. Was für ein Abenteuer! Doch Florence war Mutter. Eine Mutter ließ ihre Kinder nicht im Stich. Selbst wenn sie mit einem solchen Tyrannen wie Henri de Meli zusammenlebte.
Minna von Funcke stand auf und sah aus dem Fenster auf die Straße. »Deine Droschke steht noch da. Fahr gleich zu Florence. Und ich werde es so einrichten, dass ich heute Abend oder spätestens morgen früh bei dir bin, sodass wir weitere Schritte besprechen können.«
Clara nickte.
»Außerdem werde ich Oskar vorsichtig fragen, ohne dass er gleich Wind von der Sache bekommt, welche Möglichkeiten es gibt, um jemanden aus einer solchen Anstalt zu befreien.«
Clara war erleichtert. Dies waren handfeste Vorschläge. Langsam beruhigten sich ihre Nerven wieder. Der Sherry wirkte. Ebenso wie die Besonnenheit ihrer Freundin Minna.
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