Kommunale Pflegepolitik. Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik - Frank Schulz-Nieswandt


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ist das Aufsetzen einer passungsoptimalen Brille. Diese Brille ist nicht in rosa Farbe getaucht. Es geht um die epistemologisch bedeutsame Funktion der Brille im Sinne des verstehenden Durchblicks. Wenn von Liebe die Rede ist, dann im Sinne eines wissenschaftlichen Gebrauchs dieser Kategorie. Weder das flüchtige Verliebtsein noch die Libido als Ökonomik der Begierde ist gemeint. Wir sind eingetaucht in das Symposium von Platon. Es geht um das »Menschsein im Mitsein«52, also um anthropologische Fragen der Grundlegung des Verstehens des Daseins.

      Wahrheit ist hier nicht empiristisch gemeint; oder nur zum Teil. Wahrheit meint hier nicht die Wahrheit der »Es-gibt-Sätze«. Denn das Gegebene kann sowohl gut wie auch böse sein. Es geht um die Wahrheit der Wirklichkeit als Wahr-Geworden-Sein des Möglichen.53 Über die Kategorie der Möglichkeit haben wir ja soeben bereits einige Worte – mehr nicht – »verloren«. Das ganze Problem wird deutlich, wenn man bei der Lektüre der großen Studie »Der Mensch im Widerspruch« von Emil Brunner54 den Untertitel im Blick hält: Die christliche Lehre wird als »Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen« anthropologisch (und damit gegen den dualistischen Supranaturalismus der pseudodialektischen dogmatischen Orthodoxie von Karl Barth55) entfaltet. Das ist die expressionistische56 Haltung einer existenzialen Wissenschaft von der praktischen Sozialpolitik: Ihr »Schrei«57 ist Ausdruck der Erkenntnis des sozialen Dramas als (nicht zu wörtlich zu nehmende) skalierbare58 Differenz des Nicht-erfüllt-Seins des Lebens.

      Drama59 ist ein Oberbegriff für Texte mit verteilten Rollen.60 Die Dramatik ist neben der Epik und der Lyrik eine der drei grundlegenden literarischen Gattungen.61 Kennzeichnend sind die Dialoge. Ein Drama kann aber als Epos (in der Antike sodann von der Lyrik abgelöst62), die »Grundfragen des menschlichen Daseins«63 thematisierend und damit u. a. Menschenbilder64 transportierend, modern als Roman65 nacherzählt werden. Modernität verweist auf die Aktualisierbarkeit faszinierender66 alter Archivvorlagen. Dass das Leben tragische67 und komische Züge trägt, ist evident. Die Akte der Aufführungen auf der Bühne des Lebens mögen die Altersklassen im Lebenslauf sein. Kritische Lebensereignisse, von der Entwicklungs- und Sozialpsychologie breit erforscht, mögen Wendepunkte im Handlungsablauf sein. Ob sich die Katharsis68 einstellt, ist eine Frage der Reifung der Subjekte.69

      Die Poetik70 ist die Lehre von der Dichtkunst, somit Theorie der Dichtung, und als solche setzt sie sich mit dem Wesen der Dichtung71 auseinander, ihrem existenzialen Wert, konkretisiert als ihre Aufgaben (Funktionen), ihren Ausdrucksformen und ihren poetisch fassbaren Gattungen. Die Poetik der kritischen Sozialwissenschaft, die zugleich ihre tiefe Verbundenheit zur Semiotik einerseits und zur Psychoanalyse andererseits offenbart, gehört nun zu den Metaebenen der vorliegenden Abhandlung, die sich »objekttheoretisch« und damit thematisch um den »Kommunalismus«72 (um die Kommunalität; um das Phänomen der communitas73) der menschlichen Daseinsführung zentriert, aber, um das Ziel in gründlicher Weise zu erreichen, die komplexen Umwege, Seitenpfade, Vertiefungswege, Verästelungen, vielleicht auch einige Abwege des Sich-Verlaufens »in Kauf nehmen«. Kaufen: eine Sprache, die wir eigentlich vermeiden wollen, deren Nutzung aber zugleich deutlich macht, wie sich der zur leiblichen (geistigen, seelischen, körperlichen) gouvernementalen Hegemonie neigende Gegenstand unsere eigene Gefangenschaft in dieser unserer Welt anzeigt. Kritische Theorie muss sich aus den an eine Riesenkrake erinnernden Armen ihres Objekts, das sie analysiert und zu dem sie gehört, hinreichend relativ befreien. Sonst wird sie selbst in das Dunkel der Tiefe74 gezogen. Nicht zufällig gehört die Krake75 zu den Monstern der phantastischen Erzählungen der Menschheit, gerade im Meer, das einerseits die Weite (des Abenteuers [philosophischer: des Wagnis76] des Lebens) symbolisiert, aber auch die gefährliche dunkle Abgründigkeit77 genau dieses Abenteuers zum emotionalen Ausdruck bringt. Und auch die Leserschaft muss, im analogen, soziolinguistisch verstehbaren Käfig gefangen, »ihren (allerdings doppelten) Preis zahlen«, doppelt, weil die Abhandlung erstens zum Lesen zu beschaffen ist und zweitens im Modus des Lesens sodann verstehend zu verarbeiten ist. Wir müssen die kulturelle Grammatik der sozialen Formen des Miteinanders verstehen, wozu wir eben auch in die Tiefe des Hades78 der psychischen Strukturen absteigen müssen.

      Es mussten also Umwege gegangen werden, um an das Ziel zu kommen. Es geht nicht um ein oberflächliches Verständnis von Governance der Sozialpolitik. Es geht nicht um die direkte und unmittelbare Hinwendung zur vielfach diskutierten politikwissenschaftlichen Sicht auf die Steuerung im Kontext vertikaler und horizontaler Politikverflechtung, um soziologische Fragen der Netzwerkbildung79, um juristische Debatten über das (auch europarechtlich brisante) Prinzip der Subsidiarität80 im Föderalismus, über das Prinzip der Konnexität81 im Finanzföderalismus usw. All das wird aufzugreifen sein. Aber diese Themendimensionen werden kohärent einzubetten sein in einen anthropologisch fundierten Zugriff auf die große Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft politisch in Verantwortung steht. Verantwortung meint: Auf die offenen Fragen (vor allem im Modus des Hilferufes) angemessene Antworten geben.

      Die Tiefengrammatik des Feldes wird dort deutlich, wo wir in psychodynamische Analysen eintauchen, und auch dort, wo überaus deutlich ausgesprochen werden muss, dass es um hegemoniale Kämpfe82 in der ideologischen Landschaft der (gesellschaftsbezogenen, nicht nur wirtschaftspolitischen) Ordnungspolitik geht.

      Die Abyssus-Bezüge sind hier im Sinne der philosophischen Anthropologie zu verstehen. Wir wollen hier nicht mit der Angststörung der – in der Filmgeschichte, aber auch allgemeiner in der Kulturgeschichte83 präsente – Arachnophobie theoriestrategisch spielen. Vielleicht sind wir Menschen für den Beutefang des weltweiten Turbo-Kapitalismus mit seinen Netzwerken nur Insekten. Schließlich ist es in der Warenökonomie ebenso, dass wir – im Prozess der Wertschöpfung – verwertet werden. Wer das Spiel nicht mitmacht, wird frühzeitig (»freigesetzt« nennt man es in der Arbeitsmarkttheorie) abgeschrieben. Freisetzung wurde 1994 zum »Unwort des Jahres« erklärt, da es als Beispiel für »sprachliche Demütigung« galt. Dann ist, wie soziolinguistische Studien der Ethnographie der Hartz IV-Praxis zeigen konnten, der Mensch nicht mehr »Kunde« der Arbeitsagenturen, sondern »Klientel« der Jobcenter. Schaut man sich angesichts der lateinischen Sprachwurzel die soziale Wirklichkeit des Phänomens in der Antike an, so wird die vor-feudale Struktur deutlich: Menschen in wirtschaftlicher Not und mit fehlender rechtlicher Souveränität werden Schutzbefohlene der Treueleistungen gegenüber dem Patronagesystem, das sie in klientilistischer Abhängigkeit quasi-familialistischer Art einbettet. Es ist wohl offensichtlich, dass die Begriffe Wert und Freiheit hier vom System in den Wahrheitsspielen eigenwillig ausgelegt werden. Menschen als Insekten metaphorisch zu verstehen, ist in der Geschichte der Kulturkritik (im Diskurskontext der Vermassung in der Großstadt als Moloch84) eine verbreitete diagnostische Strategie.85 »Ameisengesellschaften«86 (oder gar der Ameisenstaat) sind eine Faszinationsgeschichte, als sei hier die natürliche87 Vorgeschichte gesellschaftlicher Kohäsion zu studieren. In der Kulturkritik der Moderne im Prisma der »konservativen Revolution« galt hier der Masse die Kritik im Modus des Ekels. Die Masse war ungeheuerlich; Ungeheuer dienten daher der Beschreibung der Massen.88 Antidemokratisches Denken gegenüber der Masse generierte dann wirklich die Masse des Faschismus89. Nur eine (letztendlich bildungsinfrastrukturpolitische, auf befreiende Befähigung abstellende) Kritik der Masse im Dienste der Demokratie – also das Pochen auf soziale Chancen zur Personalisierung90 der einzelnen Menschen – ist legitim.

      Kritische Theorie muss daran gemessen werden.91 Nur dann, denn sonst kippt92 Kritik selbst um in Hass auf die dummen Massen, kann (darf) über das Monsterhafte93 des Kapitalismus94 debattiert werden. Wir müssen unsere Emotionen als Leidenschaften der kritischen Haltung in der engagierten Wissenschaft selbst wiederum psychoanalytisch gekonnt kontrollieren. Diese Auffassung engagierter Wissenschaft setzt sich von der gängigen cartesianischen Subjekt-Objekt-Spaltung ab: Wissenschaftssubjekte sind Teil des Objektzusammenhangs. Das liefert sie nicht in Blindheit aus. Diese Einbettung kann methodisch (auf einer Metaebene) kontrolliert werden. Und sie muss reflektiert werden: eine Frage achtsamer Haltung im Selbstmanagement. Diese Haltung mag nicht Mainstream sein, ist aber elaboriert, sei es in der neueren französischen Phänomenologie,


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