Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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Propagandist sinnloser Grausamkeit, ein geschickter Segler in der Intransparenz eines Netzes von Geheimdiensten, Verschwörergruppen, sinisteren Parteien und Terroristen. Er durchschaut Lohse, der für ihn weder ein Gesinnungstäter noch ein „geborener Mörder“ ist:

      Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit ihrem Leben, Ihren Einnahmen, ihrer sozialen Stellung. Sie hätten versuchen sollen, im Rahmen Ihrer Persönlichkeit mehr zu erlangen, niemals aber ein Leben, das Ihrer Begabung, Ihrer Konstitution zuwiderläuft.8

      Ob das nun ehrlich gemeint ist oder ob es sich um einen Trick handelt, den Ehrgeiz Theodors anzustacheln, bleibt an dieser Stelle offen. Für ihn ist der umtriebige, leicht zu lenkende Weltkriegsleutnant Instrument und Mittel zugleich, um Geld und Einfluss zu maximieren. Er fädelt eine Hochzeit von Theodor mit einer preußischen Aristokratin ein und verschafft ihm einen einflussreichen Job knapp unterhalb der Minister-Ebene. Während Lohse einem unaufhaltsamen sozialen und politischen Aufstieg entgegenstrebt, kommen seine beiden jüdischen Förderer, zunächst Trebitsch, der sich mit seinem Onkel nach Amerika absetzt, und Lenz, der sich spontan entscheidet, mit seinem Bruder Lazar in den Zug nach Paris einzusteigen, der Bewegung abhanden. Sang- und klanglos verschwinden sie aus dem narrativen Raum des Romans. Für beide war es ein Spiel, das sich vor allem für Lenz, der sich rührend um seine ostjüdische Familie kümmert, finanziell ausgezahlt hat und das wie jedes Spiel einmal an ein Ende kommt.

      So verschieden die Figuren bei Horváth und Roth sich unterscheiden mögen, hier der erfolgreiche Politiker, dort der einsame Melancholiker in der braunen Masse, beide sind sie getragen von jenem politischen Dispositiv, das man einmal als braune Revolution bezeichnet hat. Von ihr versprechen sie sich einen dynamischen Effekt, der ihre mehrfache Marginalisierung kompensieren soll. Oder anders gesagt: Die erfahrene und erlittene soziale, geschlechtliche und ökonomische Deplacierung und die daraus erwachsene Selbstkränkung und Identitätskrise des Mannes und Soldaten nach 1918 bilden die entscheidende Bedingung der Möglichkeit für den so überraschenden wie rapiden Aufstieg der Voraussetzungen für den rechtsradikalen Aufstand gegen die liberale Demokratie. Hier gibt es, über die unleugbare ökonomische Krisensituation, Inflation und Massenarbeitslosigkeit, einen symbolischen Überschuss. Männer, die auch in den eigenen Augen ein überflüssiges Nichts sind, laden sich durch ein Programm auf, das ihnen verspricht, wieder etwas zu werden. Den hohen Preis sind sie bereit zu zahlen, eben weil sie wahre Männer sein wollen, die sich vor Gewalt und Grausamkeit nicht fürchten, sondern diese als Medizin für ihre prekär gewordene Männlichkeit sehen. Sie bringen die Gewissensbisse im Hinblick auf die gemeinen Taten zum Verstummen:

      Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er jede Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. „Ich muß zu dir aufschaun!“ sagte Elsa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu ihrem Mann empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit – dachte sie –, Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser.9

      Ein solcher Befund anno 1923 ist erstaunlich und prophetisch, nimmt er doch den Habitus all jener vorweg, die es im Gefolge der Machtergreifung von 1933 nach Oben spülen sollte. Man muss mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber einige der psychischen Dynamiken, die Roth und Horváth in ihren literarischen Werken herausarbeiten, sind auch im gegenwärtigen Kontext hundert Jahre danach durchaus wirksam.

      1918, Untergang der Habsburgermonarchie und ihre Historiker

      Eine unendliche Geschichte vom Fall und Ende

      Filip Šimetin Šegvić (Zagreb)

      Das große Erinnerungs- und Gedenkjahr 1918 wurde auf globaler Ebene als hundertstes Jubiläumsjahr mehrerer wichtiger Ereignisse ‚konsumiert‘, unter anderem hat man den Untergang der Habsburgermonarchie sowie Gründung sämtlicher neuen Staaten, so auch des SHS-Staats, der Republik Österreich oder der Tschechoslowakei mit verschiedenen Veranstaltungen bedacht. Auf Tagungen und in wissenschaftlichen Publikationen wurde das Jahr 1918 als Umbruchsjahr oder als „Stunde null“ dargestellt. Das Themenspektrum eines Sammelbands versuchte zum Beispiel 1918 nicht als eine strikte Demarkierung vorzustellen, sondern auf übergreifende politische, soziale und kulturelle Strukturen hinzuweisen und somit klassische Spaltungen zu vermeiden.1 Ernsthafte wissenschaftliche, aber auch politische bzw. öffentliche Debatten wurden darüber in ganz Mittel- und Südosteuropa geführt. Dabei kam heraus, dass die meisten Debatten unabhängig voneinander, also ohne jegliche komparativgeschichtliche Perspektive, nicht im Dialog, sondern als monologische Einzelbestandteile geführt wurden. Man konnte auch feststellen, dass bei den Historikern in Mittel- und Südosteuropa nicht nur Kontroversen und größere Fragenkomplexe offen geblieben sind, sondern dass man sich auch auf anderen Ebenen nicht ergänzen konnte, beispielsweise bei einer Suche nach den kroatisch-serbischen oder habsburgisch-patriotischen sowie jugoslawischen Erinnerungsorten, den lieux de memoire.2

      Der Begriff ‚konsumiert‘ wurde absichtlich verwendet, weil Historiker, die noch 2014 auf einen neuen bzw. methodologisch differenzierten Erfahrungsraum vorbereitet waren, sich bis 2018 wahrscheinlich ernüchtert haben. Auch Christopher Clarks literarisch gelungene „Master-Darstellung“, die auf der Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs neue Debatten hervorrief, mangelte an wirklich neuen Interpretationen und Ideen; dennoch bleiben Die Schlafwandler ein multiperspektives Meisterwerk der neuesten Geschichtsschreibung.3 Eine propulsive Bereicherung und Erneuerung der Habsburgerstudien, mit allen zugehörigen modernen methodologischen und theoretischen Ansätzen in der Geschichtsschreibung, lässt allerdings immer noch auf sich warten, trotz einer Überproduktion von re-traditionalisierten und klassisch politisch-historischen Beiträgen. Es wurden zahlreiche Konferenzen und Tagungen abgehalten, die einen neuen Blickwinkel oder aber einen Blick aus der Vogelperspektive auf die letzten Jahre der Habsburgermonarchie und anderer europäischer Imperien geboten haben, ohne dabei traditionelle Fragestellungen zu erweitern, manche wurden sogar aufgegeben. Viel häufiger rückten aber alte Argumente und sogar alte Einstellungen in den Vordergrund.

      Das Jahr 1918 als das große Bruchjahr bezeichnet in der Geschichtsschreibung unter anderem auch den endgültigen Untergang der Habsburgermonarchie. Bis heute erhält sich in zahlreichen Werken die alte Perspektive von der geschwächten „alten“ Donaumonarchie, die als ein Anachronismus dargestellt wird und daher nicht überraschend ihr Ende 1918 erfährt – zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang insbesondere zahlreiche Beiträge der kroatischen Historiographie, die sich auf 1918 und die darauffolgenden Jahre konzentrieren. Mehrere dieser Beiträge, die sich mit diesem Thema in der neueren Zeit beschäftigen, bleiben in erster Linie auf Ereignisse, also auf die von Fernand Braudel benannte „Zeit der Geschichte“ und den „mechanischen Zeitlauf“, auf die histoire événementielle („Ereignisgeschichte“) konzentriert.4 Gerade diese Ebene der historischen Prozesse wurde bereits im heute vergessenen, aber nichtdestotrotz wichtigen Werk Raspad Austro-Ugarske i stvaranje južnoslavenske države (Der Untergang Österreich-Ungarns und die Gründung eines jugoslawischen Staates) des kroatischen Historikers Bogdan Krizman (1913–1994) aus dem Jahr 1977 untersucht.5 Und gerade für die kroatische Situation um 1918 ist die Perspektive der langen Dauer gut geeignet: nicht die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien oder Österreich, sondern gerade Kroatien bzw. Jugoslawien.6 Es handelt sich dabei um einen Sonderfall, der tatsächlich für die Durchführung einer transepochalen komparativen Studie geeignet wäre. Kroatien fügte sich nach jahrhundertelanger Dominanz der Dynastie Habsburg als einziges mitteleuropäisches Land in ein neues multinationales, multikulturelles und multikonfessionelles Imperium bzw. Königreich ein. Doch außer der hervorragenden Arbeit des Historikers Ivo Banac, dem Buch The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Politics hat die kroatische Geschichtsschreibung bis heute kaum solche übergreifenden Studien hervorgebracht.7

      Wichtige Ansätze dazu gibt es schon seit einiger Zeit in der österreichischen und deutschen, aber vor allen in der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung: die Sektion „Habsburgia“ – ein Begriff des Historikers Tony Judt8 (1948–2010) – gab es auch schon vor 1918 in der britischen Geschichtsschreibung, was auf keinen Fall eigenartig vorkommen sollte. Das Thema „Untergang der Monarchie“ ermöglichte


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