Leirichs Zögern. Rudolf Habringer
ich meinen Schlüssel nicht ertasten konnte. Kurz nach Überqueren der Bürgerstraße hielt ich an, um im Rucksack nach ihm zu suchen: Er fand sich in der äußeren Tasche. Für gewöhnlich trage ich den Schlüssel in der Hosentasche, ich konnte mich nicht erinnern, wie er in den Rucksack geraten war.
So früh am Morgen war der Supermarkt noch schwach besucht. Es handelte sich um einen Diskonter in zentraler Lage, der viele Migranten anzog, eine bunt gemischte Klientel, die man der Stadt gar nicht zutraute. Die von mir bevorzugte Verkäuferin, eine junge, schwarzhaarige Frau mit einem gepiercten Nasenflügel, hatte offenbar noch nicht Dienst.
Als ich wieder ins Haus ging, nahm ich die Zeitung aus dem Postfach. Im Stiegenhaus informierte mich ein Blatt lapidar darüber, dass die Hauskasse leer war. Mit dem Geld aus dieser Kasse wurde unsere Putzfrau bezahlt – schwarz.
Beim Frühstück hörte ich (Zerstreuung eins) ein Stück, das ursprünglich Mozart zugeschrieben worden war, neueren Forschungen zufolge nun aber von einem bisher nie gehörten Komponisten stammen sollte, später las ich in der Zeitung, dass in Deutschland, vorwiegend in Asia-Restaurants mit All you can eat-Angebot, Wirte überlegten, Gebühren für übrig gelassenes Essen zu verlangen (Zerstreuung zwei), anschließend drückte ich am Klavier vierstimmige Mollakkorde mit großer Septime in allen Tonarten (den Akkord, den ich für die Dauer dieses Sommers zu meinem bevorzugten gewählt hatte). Diese beiläufige taktile Übung – möglicherweise kämmten andere mit derselben Abwesenheit ihren Hund – wurde abgelöst durch das Hinhören auf ein unregelmäßiges Klopfgeräusch aus dem Geschirrspüler. Als ich den Spüler öffnete, schlug mir heißer Dampf entgegen. Ich nahm eine Bratpfanne heraus, deren Stiel offenbar ein rotierendes Teil an der Umdrehung gehindert hatte (Zerstreuung drei und vier).
Als ich auf die Küchenuhr sah, war es halb elf und ich beinahe zu müde, den Computer einzuschalten. Ich löschte vier Mails ungelesen, ein fünftes, das von der Uni kam, öffnete ich vorerst nicht. Im Internet las ich von zwölf Nahrungsmitteln, die man niemals im Kühlschrank aufbewahren sollte. Der Tipp für Kartoffeln bestand darin, sie in einer Papiertüte an kühler Stelle im Keller oder im Schuppen aufzubewahren. Ich wohnte in einer Mietwohnung mit geheiztem Keller, ohne Schuppen. An dieser Stelle schlug meine Aufmerksamkeit gegenüber verstärkt eindringenden Germanismen in der Sprache an, ein Spleen, den ich schon als Schüler gepflegt hatte und der mir geblieben war. Als ich jung war, hatten wir halt Plastiksackerl gesagt und ein Schuppen im Dorf meiner Kindheit war immer eine Holzhütte gewesen. So veränderte sich Sprache und hatte sie sich immer gewandelt.
Später holte ich mir aus der Küche ein Glas Wasser und legte mich auf die Couch. Obwohl ich mich müde fühlte, flottierten die Gedanken. Seit einiger Zeit führte ich eine sich ständig erweiternde Liste mit alternativen Karrieremöglichkeiten. Von einem isländischen Turnlehrer hatte ich vor vielen Jahren gelernt, dass es immer einen Plan B gab. In letzter Zeit hatte ich ein paarmal vage daran gedacht, meine Existenz als freiberuflicher Historiker zu verändern. Für diesen regelmäßig anflutenden Veränderungswunsch hatte ich mir eine Liste angelegt, die in zwei Rubriken eingeteilt war. Die Idee dazu verdankte ich einem Studienkollegen, der vor Jahrzehnten eine Theorie einer Karriere nach unten entworfen hatte. Der Studienkollege entstammte einer Fabriksarbeiterfamilie und überlegte damals, ob es nicht möglich wäre, als Akademiker seine wissenschaftliche Expertise wieder jenem Milieu zukommen zu lassen, dem er ursprünglich entstammte. Tatsächlich schrieb der Kollege aber eine Dissertation, habilitierte sich schließlich und ist bis heute als Dekan an einer philosophischen Fakultät in Süddeutschland tätig. Gelegentlich, wenn eine öffentliche Auszeichnung für ihn ansteht, lese ich von ihm. Nichts also von einer Karriere nach unten.
Dennoch nahm ich mir sein idealistisches Vorhaben – völlig privat und ohne wissenschaftlichen Anspruch – als Vorbild für meine Liste, in der ich links die Karrieremöglichkeiten nach unten (Schulbusfahrer, Tankstellenmitarbeiter und so weiter, die Liste war ziemlich umfangreich), rechts die nach oben (ordentlicher Professor an einer Uni, Dekan, berühmter Sachbuchautor etc.) aufgezählt hatte.
Ich lag auf der Couch und sah mich als Prokrastinationsexperte in einer der Talkshows am späten Freitagabend im dritten deutschen Fernsehen sitzen, ohne mir im Augenblick darüber klar zu sein, ob ich jetzt als direkt betroffener Experte (Karriere nach unten) auf der Couch saß oder als Wissenschaftler, der über das Phänomen des permanenten Aufschubs von Aufgaben und Vorhaben (das Vokabel Prokrastination hatte ich erst vor wenigen Jahren in meinen Wortschatz aufgenommen) forschte (Karriere nach oben). Möglicherweise und am wahrscheinlichsten traf auf mich sogar der Fall eines prokrastinierenden Wissenschaftlers zu (was den komplizierten Fall einer gleichzeitigen Karriere nach oben und nach unten bedeuten konnte).
Über diesen verwirrenden Überlegungen schlief ich ein. Die Unterlagen für das Proseminar, die ich ohnehin nur auf ihre Vollständigkeit hin untersuchen hatte wollen, blieben im Kasten. Als ich aufwachte und mir Kaffee machte, war es Zeit geworden, mich auf den Vortrag am Abend vorzubereiten.
Abends fuhr ich mit der Straßenbahn in das Pfarrzentrum weit draußen am Stadtrand. Die Veranstaltung sollte im Saal eines in den siebziger Jahren rasch hingebauten Betonkirchenneubaus mit Flachdach stattfinden.
Bis knapp vor der Haltestelle beim Pfarrzentrum hatte ich mich unvermutet in eine meiner Lieblingsbeschäftigungen beim Straßenbahnfahren, eine veritable kulturpessimistische Schelte, hineinfantasiert. Die Fantasie verrichtete gleichzeitig auch eine vorbeugende Wirkung. Erfahrungsgemäß musste ich bei diesen Veranstaltungen immer damit rechnen, dass das Publikumsinteresse für meinen Vortrag mäßig, schlimmstenfalls katastrophal ausfallen würde. Energetisch gesehen musste ich mir meine Kraft für den Abend daher so einteilen, dass neben der Konzentration, die ich für den Vortrag brauchte, noch genügend Energie übrig blieb, geknickte Veranstalter (das war der letzte Vortrag, den ich organisiert habe) aufzurichten und zu trösten.
Irgendwo in einem zentralen Register einer öffentlichen Bildungseinrichtung wurde ich als Referent mit Vorträgen zum Thema Massenmedien geführt. Die Ergebnisse meiner Dissertation, die ich vor knapp dreißig Jahren über die Presselandschaft in Österreich nach dem Krieg verfasst hatte, hatte ich mit neueren Veröffentlichungen zum Umbruch in den Printmedien und Studien über Social Medias zu immer wieder anders zusammengestellten Referaten gemixt. Auf diese Weise hatte ich mir über die Jahre den Ruf eines sogenannten Medienexperten im populärwissenschaftlichen Umfeld erworben, eine Zuschreibung, die mir ein regelmäßiges Zubrot zu meinen bescheidenen Einkünften als Lehrbeauftragter eintrug. Wenigstens hatte ich dank meiner Vortragstätigkeit ein Ableitungsventil für meinen durch Zeitungslesesucht angestauten Pessimismus gefunden. Durch das öffentliche Vor-mich-hinsagen von skeptisch-pessimistisch-apokalyptischen Zukunftsprognosen/-aussagen verschaffte ich mir so von Zeit zu Zeit eine Erleichterung, die sogar honoriert wurde.
Der Abend war besser besucht, als ich befürchtet hatte. Der Altersschnitt der Besucher lag, wie ich überschlagsmäßig noch während des Vortrags berechnete, sogar knapp unter fünfzig. Das Ritual nach meinem Referat sah eigentlich eine Diskussion vor. Weil Fragen aus dem Publikum ausblieben, beschränkte ich mich auf ein paar sarkastische Sätze meinerseits über das absehbare Zeitungssterben in den nächsten Jahrzehnten.
Rasch ging die Versammlung anschließend auseinander und strebte den kleinen Einfamilienhäusern zu, die sich rund um das Pfarrzentrum scharten. Auch der Organisator der Veranstaltung hatte offenbar Eile, mit mir die Formalitäten zu erledigen. Mir fiel zum wiederholten Mal auf, dass Honorarfragen stets diskret und wenn möglich in einem Nebenzimmer mit gesenkter Sprechstimme abgewickelt wurden, als handle es sich dabei tendenziell um etwas Unanständiges. Geld gehört zu den letzten wirklichen Tabus unserer Gesellschaft, sogar wenn es um derartige Kleinsummen geht, die nach solch einer Veranstaltung den Besitzer wechseln.
Gemeinsam mit dem Organisator verließ ich das Pfarrzentrum. Der Mann schloss hinter mir die Tür, setzte sich ans Steuer eines Kleinwagens und verschwand in der Dunkelheit. Leichter Nebel hatte sich gebildet. Er legte sich wie Schweiß auf die Haut und ließ mich frieren. Vor der Veranstaltung hatte ich den Fahrplan der Straßenbahn studiert und mir die spärlichen Abfahrtszeiten am späten Abend eingeprägt.
Auf dem Platz vor dem Pfarrzentrum stand eine ältere Frau mit einem Fahrrad, die offenbar auf mich wartete. Die Frau hatte