Unterricht ist Beziehungssache. Michael Felten
Aus der frühen experimentellen Sozialpsychologie (am bekanntesten geworden: Kurt Lewins Studien in den 1940er Jahren) wissen wir einiges darüber, wie sich unterschiedliche Führungsstile auf das Arbeitsverhalten einer Freizeitgruppe von Jugendlichen auswirken:
Beim autoritären Führungsstil übernimmt die Leitungsperson die Hauptverantwortung. Sie verteilt (Teil-)Aufträge, bestimmt den Modus der Aufgabenerledigung und nimmt ein distanziertes Verhältnis zu den Jugendlichen ein. Das Arbeitsergebnis bei diesem Stil ist zwar respektabel, allerdings nur um den Preis permanenter Kontrolle durch den Leiter – das Gruppenklima wird als schlecht beschrieben.
Beim Laissez-faire-Führungsstil verhält sich die Leitungsperson passiv, sie verzichtet auf Lenkung und Kontrolle und lässt die Jugendlichen selbst die Aufgabe bestimmen und die Arbeit verteilen. Auch bei auftretenden Problemen greift sie nur dann helfend ein, wenn sie ausdrücklich um Hilfe gebeten wird, ihre Beziehung zu den Jugendlichen ist distanziert bis gleichgültig. Qualität wie Quantität des Arbeitsresultats sind hier besonders gering, das Klima in der Gruppe miserabel.
Beim demokratischen Führungsstil besprechen Leitungsperson und Jugendliche die Aufgabe gemeinsam und legen miteinander Teilziele fest. Die Leitungsperson gibt Hilfestellungen, ohne aber den Jugendlichen die Verantwortung aus der Hand zu nehmen, das emotionale Verhältnis ist eher freundschaftlich. In diesem Fall entsteht freiwillige Kooperation der Jugendlichen sowie eine angenehme Atmosphäre.
Im deutschsprachigen Raum hat die Forschungsgruppe um Annemarie und Reinhard Tausch in den 1960er Jahren [25]insbesondere die positiven Effekte emotionaler Wärme seitens der Lehrkraft herausgestellt. Dazu gehören auch Aspekte wie Achtung, Rücksichtnahme, Empathie, Echtheit und Aufrichtigkeit. Emotionale Wärme wirkt sich demnach positiv auf Angstlevel, Klassenklima und Leistungsbereitschaft aus – sowie auf die Zufriedenheit von Lernenden wie von Lehrenden.
Bindungstheorie
Bereits in den 1950er Jahren hatte der britische Kinderpsychiater John Bowlby eine humanwissenschaftliche Metatheorie begründet, die den Aufbau und die Veränderung enger zwischenmenschlicher Beziehungen genauer in den Blick nahm. Aus anthropologischer Perspektive wird menschliche Entwicklungsdynamik durch das Zusammenspiel zweier motivationaler Systeme bestimmt: dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Streben nach Neuerkundung. Die frühen Erfahrungen mit den primären Bindungspersonen im Hinblick auf Angst/Vertrauen und Vorsicht/Entdeckungsdrang gerinnen im Laufe der ersten Lebensjahre zu musterhaften Erlebnis- und Handlungsbereitschaften, die sich vier »Bindungstypen« zuordnen lassen (sicher gebunden, unsicher vermeidend, unsicher ambivalent, desorganisiert). Je größer die elterliche Feinfühligkeit im Hinblick auf die Regungen des Kleinkindes, umso tiefer zukünftig sein grundlegendes Lebensvertrauen, umso ausgeprägter seine spätere Fähigkeit zu angemessener Eigenwahrnehmung (Selbstregulation) und Fremdwahrnehmung (Mentalisierung). Sicher gebundene Kinder spielen ausdauernder und konzentrierter, sie haben weniger Streit und lösen Konflikte selbständiger, sie neigen zu einer optimistischeren Weltsicht und haben ein realistischeres Selbstbild.
Sein individuell erworbenes Bindungsmuster aktiviert das [26]Kind auch in schulischen Lernsituationen, schließlich beschert einem neuer Stoff immer auch ein gewisses Fremdsein, birgt ein Angstpotential. Ein sicher gebundener Schüler wird sich unbekümmert herausgefordert fühlen, während die beiden unsicheren Typen beunruhigt reagieren (sie verbeißen sich verkrampft in die Sache oder klammern an der vertrauten Lehrperson); der desorganisierte Typ hingegen agiert unkalkulierbar – er wendet sich völlig vom Inhaltlichen ab oder verwickelt die Lehrperson in Kämpfe. Aber auch Pädagogen reagieren auf Lernprobleme oder Klassenkonflikte mit ihrem jeweiligen Bindungsmuster: Die sicheren sind eher entspannt und empathisch, unsichere hingegen werden schnell abweisend und distanziert – und desorganisierte fallen durch Unberechenbarkeit und Empathiemangel auf.
Nun spielen sich schulische Lern- und Beziehungsvorgänge ja nicht nur zwischen zwei Seiten ab, sondern in einer Gruppe – und auch die kann als sicherer Hafen wirken oder als Minenfeld. Neben der Sachebene existiert also eine komplexe, hochgradig wirksame Beziehungsebene: individuelle Sympathien und Antipathien, Cliquen, unterschiedliche Rollen (z. B. Star, Kritiker, Vermittler, Clown, Störer, Opfer), Rangordnungsfragen (bezüglich Leistung, Kontakt, Führungswillen, Zugehörigkeit). Die Klasse erweist sich damit als gruppendynamischer Raum, in dem es für jeden Schüler – abgesehen vom Lernstoff – um Fragen der Zugehörigkeit, von Macht oder Unterlegenheit, von Nähe und Distanz geht. Sie wird in dem Maß als sicherer Ort erlebt (kohäsive Klasse), in dem sie Geborgenheit vermittelt, Isoliertheitsängste reduziert und Unterstützung bereitstellt.
Aus bindungstheoretischer Sicht sind Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen also eine Folge frühkindlicher maligner Beziehungserfahrungen bzw. ein Ausdruck der dabei erworbenen Bindungsmuster. Diese können allerdings von [27]der Lehrperson aufgeweicht und verändert werden – sofern diese ihr Potential als alternative Bindungsfigur annimmt, die Klassengemeinschaft als neuen »sicheren Hafen« gestaltet und das didaktische Dreieck (Lehrer – Schüler – Thema) bindungsorientiert interpretiert. Dazu muss sie sich aber ihrer eigenen Bindungsschemata bewusst sein und in Sachen Feinfühligkeit wie Souveränität hinreichend professionell sein.
Selbstbestimmungstheorie
Die Selbstbestimmungstheorie der amerikanischen Forscher Edward L. Deci und Richard M. Ryan ist ein jüngerer Versuch, den Zusammenhang zwischen Motivation und Lernen ohne Rückgriff auf unbewusste Vorgänge zu interpretieren. Danach ist die Motivation für ein bestimmtes Verhalten immer davon abhängig, inwieweit drei psychologische Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt werden können: nach Kompetenz, nach sozialer Zugehörigkeit und nach Autonomie. Unterricht wirkt demnach in dem Maße motivierend, wie er für jeden Schüler Erfolge ermöglicht, soziales Eingebundensein schafft sowie Entscheidungsfreiheit gewährleistet.
Auch hier liegt die Relevanz für die Beziehungsebene auf der Hand: Denn es ist der Lehrer, der ermutigendes Feedback auf dem Weg zu einem Lernziel gibt – das Ergebnis aber dann dem Schüler zuschreibt. Der Lehrer ist es auch, der insbesondere schwierige Schüler wertschätzt und unterstützende Beziehungen in der Klasse stiftet und fördert. Am Lehrer liegt es schließlich, ob er den Schülern auch unterrichtliche Mitverantwortung überträgt oder ihre Eigenbeurteilungen zu Stoff oder Lernprozess schätzt und würdigt.
[28]Empirische Unterrichtsforschung
Zu den geisteswissenschaftlichen Modellen über Unterrichtsprozesse und Lehrerhandeln ist in jüngerer Zeit verstärkt eine empirisch-datenbezogene Sicht getreten. Dabei werden Merkmale beobachteten Unterrichts in quantitative Verbindung mit erzielten Lernleistungen gebracht – und daraus Hypothesen über Leitbilder für guten Unterricht abgeleitet. Wegen der ungeheuren Komplexität schulischen Lehr-Lern-Geschehens verbieten sich zwar allzu einfache, quasi lineare Deduktionen schulischer Normativität – aber eine gewisse Groborientierung in der Frage »What works?« ist nicht von der Hand zu weisen.
Besonders bekannt geworden – und in ihrem Datenumfang bislang unübertroffen – ist die Metastudie Visible learning (2009) des Neuseeländers John Hattie (dt. Lernen sichtbar machen, 2013). Hattie hat versucht, das Zeitalter des Vermutens, Glaubens und Hoffens in der Schulpädagogik durch eine datenbasierte Bilanzierung unterrichtlicher Effekte abzulösen. Er sammelte bislang über 80 000 Einzelstudien – in rund 1000 Metastudien gebündelt und bereits vorbilanziert – und leitete daraus ein bemerkenswertes Bild schulischer Lernwirksamkeit ab. Demnach sind Schülerleistungen zwar nur zur Hälfte durch äußere Maßnahmen beeinflussbar, aber davon entfällt der überwiegende Anteil auf das Handeln und die Einstellungen der Lehrer (30% von 50%, also 60% des Beeinflussbaren). Und an diesem Pädagogenfaktor ist – was Wunder – die Lehrer-Schüler-Beziehung wiederum überdurchschnittlich beteiligt.
Während Hattie den mittleren Effekt aller möglichen Einflüsse auf die Lernleistung mit d = 0,4 ansetzte, ermittelte er für die Lehrer-Schüler-Beziehung den überdurchschnittlichen Wert d = 0,52. Das ist auch deshalb bedeutsam, weil Lehrkräfte selbst ihre Beziehungswirkung in der Regel geringschätzen – ganz anders als Lernende und Eltern. Besonders hohe [29]Teilwerte