Mirroring Hands. Richard Hill
in Nijkerk (Niederlande) oder über Sacramento in Kalifornien (USA) sieht man Zehntausende von Staren in die Luft aufsteigen, ein Schauspiel, das sich jedem logischen Verständnis entzieht. Die Vögel bewegen sich in einem riesigen Schwarm in einer Art Ebbe und Flut über den Himmel.11 Es gibt dabei keinen Dirigenten, keinen »Führer« und keinen Organisator; nur eine ganz bestimmte Kombination von Voraussetzungen und Faktoren, die diesen außergewöhnlichen, sich ständig verändernden Anblick erzeugen. Es ist unmöglich, etwas anderes über Form und Fluss des Starenschwarms in jedem konkreten Augenblick vorauszusagen, als dass es immer eine Form und einen Fluss geben wird.
Die Vogelschar ist ein sich selbst organisierendes Phänomen. Ebbe und Flut der Vögel ergeben sich aus bestimmten Parametern, die untrennbar mit der Existenz der Stare verbunden sind. Die Formation entsteht fast »von selbst« – was uns als abwegig erscheinen mag, weil Menschen in der Regel meinen, dass komplexe Prozesse nur stattfinden können, wenn sie gesteuert, organisiert und geleitet werden. In unserer modernen Welt mag es ein wenig verrückt erscheinen zu denken, dass ein Prozess sich selbst organisieren kann, dass Kinder in einem nicht gesteuerten Erziehungssystem lernen können, dass eine Gemeinschaft ohne Regeln funktionieren kann und ohne dass eine Polizei für Recht und Ordnung sorgt. Ein ebenso »logischer« Denkschritt ist die Annahme, dass Psychotherapie nur auf der Grundlage strukturierter Techniken möglich ist, die zu vorhersehbaren Resultaten führen. Solche strukturierten Ansätze entsprechen dem Prinzip der linearen Verursachung, womit eine Beziehung zwischen einer Ursache und einer Wirkung gemeint ist, die schrittweise in einem Prozess mit vorhersagbaren Resultaten zutage tritt (Hardesty 2010). Noch wichtiger ist, dass dies darauf verweist, dass wir – und das bedeutet hier Menschen im Allgemeinen – eine direkte Ursache-Wirkungs-Kontrolle auf die uns umgebende Welt ausüben können. Die lineare Kausalität ist zum zentralen Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und analytischer Prozesse geworden. Sie war im vorigen Jahrhundert das dominierende Paradigma auf den Gebieten der Erziehung (Koopmans 2014, S. 20–39), der wissenschaftlichen Forschung (Galea, Riddle a. Kaplan 2010, S. 97–106) und der Wirtschaft (de Langhe, Puntoni, a. Larrick 2017). Das Prinzip der linearen Kausalität lässt sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen, es wurde von Isaac Newton im Jahre 1687 in seinen Principia formalisiert (Cohen, Whitman a. Budenz 1999).
Doch eine Starenwolke, ein Fischschwarm, die fließende Formation der Menschen, die einander auf einem belebten Fußgängerübergang passieren, die DNS, die Planeten, Sonnensysteme und Galaxien und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns resultieren alle aus einer Gruppierung von im Einklang mit Prinzipien und Intentionen sich selbst organisierenden Teilen, die bestrebt sind, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern und etwas zu schaffen, das mehr ist als die Teile selbst, und denen dies ohne jede Anleitung, Anweisung oder Instruktion von wem auch immer gelingt. Wie ist das möglich? Die Antwortet lautet, dass Selbstorganisation und nichtlineare Dynamiken der natürliche Stoff sind, aus dem das Leben besteht. Wir haben unsere Aufmerksamkeit auf die lineare Verursachung gerichtet und dabei das Gesamtbild aus dem Blick verloren. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass lineare Kausalität nicht existiert oder nicht wichtig ist. Lineare Prozesse finden zwischen Elementen innerhalb nichtlinearer Systeme statt. Beide heben einander nicht auf. Es handelt sich vielmehr um komplementäre Aspekte der Natur und natürlichen Erlebens. Entscheidend ist, wie wir über beide denken. Es ist sehr schwierig, aus linearer Perspektive über nichtlineare Systeme nachzudenken, aber es ist ganz und gar nicht schwierig, lineare Prozesse innerhalb von nichtlinearen Systemen stattfinden zu sehen. Vielleicht dominieren lineare Systeme deshalb in unserem Denken, weil viele der Dinge, mit denen wir uns Tag für Tag beschäftigen, auf der newtonschen linearen Physik basieren. Wenn Sie die komplexe nichtlineare Welt würdigen wollen, wird es Sie wahrscheinlich erfreuen zu hören, dass das nicht so kompliziert ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Komplexe Systeme
Ein komplexes System12 ist ein System, das aus einer Anzahl unterschiedlicher, aber miteinander verbundener und interdependenter Elemente (Chan 2001) oder Teile besteht. Offene komplexe Systeme werden im Laufe der Zeit noch komplexer. Ein Mensch ist zweifellos ein offenes komplexes System. Man kann ein komplexes System in autonome Teile gliedern. Unser Körper besteht aus Billiarden von Zellen. Sie sind Teile von Subsystemen wie Herz, Leber oder Gehirn. Die Subsysteme können zueinander in Verbindung treten oder eine Interdependenz zu anderen Teilen entwickeln und sich zu größeren Subsystemen formieren, etwa dem Verdauungssystem oder dem limbischen System. Entscheidend ist hier, dass im menschlichen Körper-»System« eine Menge vor sich geht und dass es zwar möglich ist, einige Teile zu separieren, letztlich jedoch alle für das Resultat oder die emergente Beschaffenheit des Systems wesentlich sind – ein menschliches Wesen sind. Die Teile erzeugen etwas, das mehr ist als sie, und sie geben keinen klaren Hinweis darauf, was das Gesamtsystem werden wird.
Klienten erleben im komplexen System ihrer Psyche oft Brüche und Abkoppelungen. Ein System kann auf viele Arten unterbrochen und gestört werden. Traumata, negative Bindungserfahrungen, Kritik, soziale Ablehnung und viele andere Arten affektiver und biologischer Verletzungen können in einer gesunden Psyche Diskontinuitäten erzeugen. Klienten kommen zur Therapie, weil sie das Warum und Wie ihres abgekoppelten und unterbrochenen Zustandes verstehen möchten, um das Problem lösen, den Schaden beheben und ihre Psyche reintegrieren und gesund machen zu können.
Komplexes System: Viele Teile sind miteinander verbunden und interdependent, und das aus der Komplexität resultierende Ganze ist mehr als die einzelnen Teile des Systems.
Nichtlineare Systeme
Ein nichtlineares System ist natürlich völlig anders beschaffen als das lineare System, mit dem wir uns soeben befasst haben. Bei einem nichtlinearen System steht der Output aufgrund von Querverbindungen und Interdependenzen innerhalb des Systems nicht in direkt proportionaler Beziehung zum Input. In einem linearen System entspricht die in das System eintretende Energie der aus dem System austretenden Energie, weshalb die Vorgänge in ihm voraussagbar sind. Die newtonsche Physik sagt uns: Wenn wir einen Ball mit einem Stock schlagen, entscheidet die Kraft des Schlags darüber, wie weit der Ball fliegt, und diese Relation lässt sich mithilfe einer mathematischen Formel voraussagen. Das gilt auch, wenn Ball und Schläger von allem anderen in der Umgebung isoliert werden. Systeme, die mit nichts anderem physikalisch interagieren, werden geschlossene Systeme genannt.
Die wissenschaftliche Forschung verwendet viel Mühe darauf, alle Variablen und Störfaktoren auszuschließen, um zu einem zuverlässigen und wiederholbaren Resultat zu gelangen. In Wirklichkeit sind Ball und Schläger nichtlineare, komplexe Systeme, die von der Luft, dem Wetter, der Kunstfertigkeit des Schlagenden, dem Teil des Schlägers, der mit dem Ball in Berührung kommt, dem Winkel, in dem der Schlag auf den Ball trifft und vielleicht sogar von der Tatsache, ob ein Vogel vorüberfliegt (und auch noch von dem Ball getroffen wird …), interdependent und interaktiv beeinflusst werden. In einem natürlichen (komplexen) System könnte dieser Ball überallhin fliegen. Was geschehen wird, lässt sich in diesem Fall nicht voraussagen. Ein großer Schwung kann eine geringe Wirkung und ein kleiner Schwung eine starke Wirkung haben, insbesondere wenn ein Hund den Ball fängt und mit ihm davonläuft. Sie erfahren das Resultat aber in jedem Fall, sobald es eintritt. Genauso verhält es sich bei der Arbeit mit Klienten. Ein und dieselbe Aufgabe kann, stellt man sie verschiedenen Menschen, zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen. Und sogar ein und dieselbe Aufgabe, die man derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten oder auf unterschiedliche Arten stellt, kann sehr unterschiedliche Resultate erzielen.
Nichtlineares System: Der Output, das Resultat oder ein resultierendes Erlebnis stehen nicht in direkt proportionaler Beziehung zum Input, weil die kombinierte Wirkung der Querverbindungen und Interdependenzen aller Teile des Systems unbekannt ist.
Chaos
Die Chaostheorie führt uns noch ein wenig weiter in die ungewöhnlichen und der Intuition eher