Im Schatten des Löwen. Linda Dielemans

Im Schatten des Löwen - Linda Dielemans


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      Der restliche Stamm saß um das Feuer. Männer und Frauen, Jung und Alt. Einer der Männer flickte einen Mantel, eine Frau schnitzte einen neuen Speer.

      Die älteren Kinder spielten mit den Kleinen oder unterhielten sich, aber Junhi gab sich keine Mühe, sie zu verstehen. Ein Baby weinte, und die Mutter begann leise zu singen. Ihre Stimme hallte von den Seitenwänden der Höhle wider, und die Melodie wogte durch den Raum. Schlafe, schlaf ein, sagte das Lied. Es half.

      Junhi fand ein Fleckchen zwischen einem dösenden Hund und jemandem, der mit dem Rücken zu ihr saß. Er drehte sich um. Es war Cramh. Junhi nickte ihm zu und entspannte sich. Hier war sie sicher.

      «Iss etwas», sagte Cramh und reichte ihr ein Stück geröstetes Fleisch.

      «Und das.» Er drückte ihr einen feuchten Ball in die Hände. «Aus dem Magen der Rentiere von heute früh. Gut für dich.»

      Junhi schlug die Zähne in das halbverdaute Moos. Es schmeckte sauer und war schleimig, aber sie hatte schon so lange nichts Grünes gegessen, dass auch eine Handvoll frischer Frühlingskräuter nicht schmackhafter hätten sein können. Und anders als so ging es nicht. Menschen bekamen Bauchschmerzen vom Moos, wenn sie es einfach so aßen. Das wusste sie aus Erfahrung.

      Junhi leckte sich die Finger ab und nahm dann einen Bissen von dem Fleisch. Es war wunderbar saftig und heiß, aber es blieb Rentier. Wieder Rentier. Sie konnte es nicht mehr riechen, wollte es nicht mehr schmecken. Nur mühsam schluckte Junhi das Fleisch hinunter. Die andere Hälfte gab sie dem Hund neben sich. Der hatte keine Probleme damit und schmatzte nur lautstark.

      «Was meinst du: Wann kommen die Mammuts wieder?», fragte sie Cramh. «Oder die Wisente?»

      Cramh musste lachen.

      «Wir hätten wohl alle Lust auf etwas Abwechslung. Aber ich weiß es nicht. Sie sind nicht in Tukhs Träumen, und Dahs hat auf seinen Erkundungszügen noch nichts gesehen, was darauf hinweist, dass sie unterwegs wären. Wir müssen also noch etwas durchhalten oder demnächst weiterziehen. Es wird schade sein, diese Wohnhöhle zurückzulassen. Aber sei froh, dass wir nicht Hunger leiden.»

      «Das stimmt.»

      Fast tat es ihr schon leid, das Fleisch an den Hund verfüttert zu haben, aber der kroch näher an sie heran, legte seinen Kopf auf ihr Bein und seufzte zufrieden, während sie ihm das Fell kraulte.

      Vielleicht sollte ich auch einfach zufrieden sein, dachte Junhi, genau wie du, Hund. Wir haben es warm und bekommen zu essen. Was gibt es noch mehr zu wollen?

       Ein Zuhause. Einen Stamm, in dem ich beachtet und nicht nur beobachtet werde.

      Auf der anderen Seite des Feuers glänzten Dahs’ Augen. Wie kleine Kohlen waren sie, immer glühend und leicht zu einem brüllenden Feuer anzufachen. Junhi war mehr als einmal diejenige, die dieses Feuer weckte. Aber sein Blick war diesmal nicht auf sie gerichtet. Er saß entspannt an die Höhlenwand gelehnt und unterhielt sich mit Tira, seiner Tochter.

      Sie war ein dünnes, sehniges Mädchen mit glattem, schwarzem Haar, das sie immer hinter die Ohren strich. Und sie war schlau. Junhi wusste sehr gut, wie schlau sie war. Aber ihr Rücken war krumm wie der Stamm des verwitterten Wacholderbaums, der am Fuß der Felsen wuchs. Sie konnte nicht gut gehen und hatte immer Schmerzen. Während Junhi sie betrachtete, sah sie, wie sich Tiras schmales Gesicht mehr als einmal verzerrte. Dahs sah es auch, aber immer, wenn er versuchte, sie zu trösten, schob Tira seine Hand weg. Sie wollte kein Mitleid, selbst nicht von ihrem Vater. Und ihre Mutter war schon vor langer Zeit gestorben. Junhi konnte sich schon gar nicht mehr recht erinnern, wie sie ausgesehen hatte. In dieser Hinsicht hatten sie und Tira etwas miteinander gemein.

      Ein Luftstrom fuhr hart durch die Wohnhöhle, als die Ledervorhänge am Eingang plötzlich beiseitegeschoben wurden. Manche Leute murmelten böse, und sogar dem Hund schauderte. Er kroch noch etwas näher an Junhi heran. Neben Junhi schüttelte Cramh den Kopf.

      «Träumer», brummte er.

      Alle schwiegen still, als Tukh in das Licht des Feuers trat, sogar die Kinder. Junhis Herz hämmerte wild, während sie den Atem anhielt. Er hatte geträumt, und er hatte seinen Traum gezeichnet. In seinem Bart hing Farbe. Was für ein Traum war es gewesen? Kamen die Mammuts? Musste der Stamm weiterziehen? Waren sie in Gefahr?

      Tukh sah sich kurz um, als begriffe er erst jetzt, wo er war. Die Elfenbeinperlen auf seinem Mantel schlugen leise gegeneinander, und schmelzendes Eis tropfte aus seinen Haaren über die Falten auf seiner Stirn. Dann lächelte er mit funkelnden Augen und entblößten Zähne. Sie waren rot vom Spucken von Farbe auf die Felsen. Träumer zeichneten mit ihrem Atem.

      Erleichtert ließ Junhi die Luft aus ihren Lungen entweichen, und die Spannung, die vorübergehend wie eine dicke Rauchwolke in der Wohnhöhle gehangen hatte, löste sich auf. Es war ein guter Traum gewesen. Tukh sagte nichts, aber sein Lächeln war deutlich genug. Schnell verschwand er in die Dämmerung hinten in der Wohnhöhle. Zu Uma. Die Stammesmutter würde seine Träume als Erste hören, und zusammen bestimmten sie dann, was der Traum bedeutete und was getan werden musste. So ging es immer und so musste es sein.

      Es dauerte eine Weile, bevor Tukh ans Feuer zurückkam. Er schaute sich um und setzte sich dann zu Dahs und Tira. Mit ausholenden Gesten erläuterte er seiner Schülerin seinen Traum. Es war schwer, nicht neidisch zu sein.

      Tukhs Hände webten Figuren in die Luft, so fließend und schnell, dass Junhi nicht sehen konnte, was sie darstellten. Tira schien ihre Schmerzen zu vergessen und lauschte aufmerksam. Wenn sie etwas fragte, antwortete Tukh liebevoll und geduldig. Dahs mischte sich nicht in ihr Gespräch, sondern schaute zu. Er war stolz auf seine Tochter. Alle konnten es sehen. Es war, als ob Tira zwei Väter hatte.

       Und ich? Ich habe niemanden.

      Erst als der Hund zu fiepen begann, merkte Junhi, dass sie ihn fest in sein Fell zwickte. Schnell ließ sie los. Aber der Hund erhob sich und trottete an einen Ort, an dem er hoffentlich besser behandelt würde.

      Cramh schaute Junhi stirnrunzelnd an. «Der Hund kann auch nichts dafür, dass du unglücklich bist.»

      «Ich wollte ihm nicht wehtun.»

      «Aber genau das hast du.»

      «Es tut mir leid, Cramh.»

      Er schaute sie nicht mehr an, als er aufstand und sich ein Stück weiter wieder hinsetzte. Sie war wieder allein, wie sie es schon seit dem Tag war, an dem sie ihre Eltern verloren hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen. Vor zwölf Wintern oder vielleicht noch mehr. Eine lange Zeit, wenn man allein ist.

      Junhi starrte in die Flammen, während sie versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken. Tränen waren für den Tod, nicht für das Leben. Das sagte Uma immer. Morgen würde es besser gehen. Morgen war die Welt wieder neu.

      2

      «Junhi! Junhi, warte doch!»

      Die Stimme klang von weit unter ihr. Junhi schirmte ihre Augen mit der Hand ab und spähte hinunter. Die dunklen Kurven des Flusses, die das Tal durchschnitten, erinnerten an die gewellten schwarzen Holzkohlelinien von Tukh auf den Felsen.

      Junhis Augen tränten vom Starren in das grelle Sonnenlicht. Ihr Kopf schmerzte und sie wischte sich übers Gesicht. Wenn Ren nicht mit ihr Schritt halten konnte, war das schade für ihn. Sie winkte kurz, drehte sich um und kletterte weiter. Er hatte sie sicher gesehen und konnte ihr folgen, so langsam er wollte.

      Auf dieser Talseite spürten die Felsen den warmen Kuss der Sonne. Auch Junhi spürte ihn, aber gleichzeitig schnitt ihr der eisige Wind ins Gesicht und ließ die letzten Schneereste aufwirbeln. Obwohl sie die Haare geflochten hatte, wehten ihr trotzdem noch schwarze Strähnen vors Gesicht.

      Junhi schob den Riemen ihrer Tasche etwas höher auf die Schulter. Der Speer in ihrer Hand fühlte sich warm und glatt an. Sie lächelte. Es war gut, ihn dabei zu haben, obwohl sie ihn heute nicht gebrauchen würde.


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