Bonusland. Götz Nitsche

Bonusland - Götz Nitsche


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jemand mit Satteltaschen reisen? Ich fand meinen klassischen Rucksack wesentlich praktischer.

      »Ja, und sogar die Klingel haben sie mir geklaut. Ich will eigentlich mit dem Fahrrad durch Lateinamerika fahren. Aber im Augenblick müssen sich die verschiedenen Flughäfen einigen, wer von ihnen mir eine Entschädigung bezahlt. Die haben ja selbst keine Ahnung, wo das Zeug geklaut wurde. Deshalb hänge ich hier fest und vertreibe mir die Zeit mit einem Spanischkurs.«

      Ein bisschen schämte ich mich für meine Vorverurteilung. Doch das Gefühl der Überheblichkeit war insgeheim Neid gewichen. Steffen wollte sich einfach am Flughafen von Guatemala City auf sein Rad schwingen und von dort durchs Land radeln? Ohne Plan, ohne Begleitung, ohne Spanisch zu können? Und dann in Guatemala City! Die Stadt hat zwar kaum mehr Einwohner als Köln, aber ansonsten nicht viel mit der ersten Welt gemeinsam. Wie leider alle Großstädte auf der kontinentverbindenden Landbrücke ist Guatemala City ein dreckiger, stinkender Moloch. Schnellstraßen winden sich mitten durch die Armenviertel, und im Gegensatz zu Köln-Porz muss man hier im Dauerstau wirklich die Knöpfchen runtermachen. Die Wellblechhütten klammern sich an die Hänge, ein bisschen wie in den Favelas in Rio, nur in umgekehrter Richtung. Denn anstatt bergauf, geht es in Guatemala tief abwärts in scheinbar bodenlose Schluchten. Immer tiefer wachsen diese Gettos in den Urwald hinein, immer weiter müssen die Ärmsten der Armen klettern, um entlang der Lebensader, die die Straße für sie darstellt, ihren Unterhalt zu erstreiten. Im zweifelhaften Ranking der Städte mit der höchsten Mordrate verpasste Guatemala City die weltweite Top Ten nur knapp. Das wusste ich allerdings alles nur aus Erzählungen, denn ich mied die Stadt, so lange ich konnte.

      »Clara!«, sagte ich, als meine Freundin den Raum betrat. »Wir sollten mit Steffen einen trinken gehen.« Er faszinierte mich, das konnte ich nicht abstreiten. Etwas an seiner gelassenen Art beeindruckte mich tief.

      »Die Strecke von Guatemala City nach Antigua ist heute viel sicherer als früher«, erzählte uns kurz darauf ein Einheimischer an der Bar. »Ich bin Busfahrer, ich kenne die Statistik. Im Schnitt werde ich nur noch alle 200 Fahrten überfallen.« Er lachte ein fast zahnloses Lachen.

      »Siehst du«, sagte Steffen strahlend. »Das bedeutet, man hat eine Chance von 199 zu eins, dass alles glattläuft, wenn man aus Guatemala City rausfährt.«

      »Aber du bist auf einem Fahrrad!«, protestierte ich. »Und allein! Sobald du an einer Kreuzung stehst, bist du ein leichtes Opfer! Und außerdem!« Ich rechnete kurz nach. »Also, Señor«, fuhr ich auf Spanisch fort. »Wenn Sie alle 200 Fahrten überfallen werden, und täglich so circa acht Fahrten machen. Dann bedeutet das doch, dass Sie …«

      »Nur noch etwa alle sechs Wochen überfallen werde. Sí, Señor! Wie ich schon sagte, die Strecke ist wesentlich sicherer geworden.«

      Ich fühlte mich völlig überfordert von so viel Unbekümmertheit. Vielleicht, weil mir selbst einmal mehr bewusst wurde, was ich doch für ein Angsthase war. Oder weil ich hin- und hergerissen war, ob ich Steffen für seinen Mut bewundern oder beneiden sollte. Aber nie im Leben hätte ich mich das getraut.

      »Warum willst du überhaupt mit dem Fahrrad fahren?«, fragte ich ihn schließlich. »Das Reisen in den Chicken-Bussen kostet fast nichts, und die Unterkünfte sind bequemer, als jeden Abend ein Zelt aufzubauen.«

      »Es geht mir nicht um das Fahren an sich«, entgegnete Steffen. »Es geht mir um die Geschichten, die am Wegesrand liegen. Kannst du dir vorstellen, was man da alles erlebt? Ich bin mir sicher, dass die Menschen ganz anders mit mir umgehen werden als mit gewöhnlichen Reisenden. Ich werde das Land auf eine Art kennenlernen, wie es ein normaler Tourist nie könnte.«

      Ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen, nein. Und es traf mich, wie Steffen von gewöhnlichen Reisenden sprach. Es klang nicht abwertend aus seinem Mund, doch es klang abwertend in meinen Ohren. Für ihn musste ich das sein, was für mich ein Pauschaltourist war. Jemand, der dem Abenteuer lieber vom Pool aus zuwinkte, anstatt sich selbst hineinzustürzen. Dieser Gedanke nagte an mir wie ein Marder am Bremskabel. Man wusste noch nicht wie und wann, doch irgendwann würde deswegen etwas passieren.

      Clara und ich setzten unsere Reise schon bald fort, doch ich blieb mit Steffen in Kontakt. Und während wir mit Bussen, Booten und zu Fuß Vulkane erklommen, Maya-Ruinen erforschten und die Abgeschiedenheit des Rio Dulce entdeckten, begann Steffen bald doch noch sein Abenteuer auf dem Fahrrad.

      Er fuhr grob die Panamericana hinab. Ausgerechnet die Panamericana, die mich in meiner Not so hart und herzlich durchgeschüttelt hatte! Eine Höllenstraße, auf der niemand einfach nur fährt, sondern grundsätzlich immerzu überholt. Es scheint keinen Moment zu geben, in dem nicht gerade in Sichtweite ein Fahrer um Haaresbreite dem Tod entrinnt. Die Panamericana ist also ungefähr die letzte Straße, auf der man Fahrrad fahren möchte. Ich hielt Steffen nach wie vor für verrückt, aber es hielt sich inzwischen die Waage mit einer großen Portion Respekt.

      Er schrieb mir von seinen Begegnungen mit den einfachen Bauern, die ihn ansprachen und die er kaum verstand, mit denen er sich mit Händen und Füßen verständigte und irgendwie darauf einigte, sein Zelt auf ihrem Grund aufstellen zu dürfen. Denen er auf den Feldern half und die ihm dafür zeigten, wie man in den Seen Fische fing. Ich konnte förmlich herauslesen, wie Steffens Augen leuchteten, wenn er mir im Chat von seinen neuesten Abenteuern berichtete. Was ich zu dem Zeitpunkt schon wusste, war, dass ich seine Radreise unbedingt weiterverfolgen würde. Was allerdings noch in meinem Unterbewusstsein schlummerte, war die Entscheidung, mich selbst schon bald auf eine solche Reise zu begeben.

      * * *

      Nach drei Wochen zwischen Dschungel, Karibik und Mayaruinen musste Clara wieder abreisen. In nur eineinhalb Tagen reisten wir von der honduranischen Karibikküste in klapprigen gelben Bussen auf die andere Seite der Berge bis kurz vor den Pazifischen Ozean, zurück zum Flughafen San Salvadors. Stunde um Stunde kurvten wir durch die Berge, in vier oder fünf verschiedenen Bussen, jeweils vom Startpunkt bis zur Endhaltestelle. Während dieser Zeit hatte ich ziemlich miese Laune, denn Clara hätte ihren Flug ebenso gut von Tegucigalpa buchen können, oder sogar von San Pedro Sula, und das sogar zu einem günstigeren Preis. Drauf geschissen, dass San Pedro Sula die offiziell gefährlichste Stadt der Welt ist, mit einer doppelt so hohen Mordrate wie Guatemala City. Ich hätte diese zweitägige Bustortur sofort gegen eine Nacht in San Pedro Sula eingetauscht, so mies gelaunt war ich nach zehn Stunden im Bus.

      Clara musste das spüren, doch sie ließ sich nichts anmerken, denn es war ihr wichtig, dass ich sie begleitete. Da ich aber im unmittelbaren Anschluss ein paar Tage auf Utila verbringen wollte, einer Insel vor der honduranischen Küste, würde ich nach ihrem Abflug den gesamten Weg zurückfahren müssen. Einmal quer über die Kontinentalbrücke und zurück – dieser Umstand war doch Grund genug, schlechte Laune zu haben, oder? Wenn ich Hunger habe oder erschöpft bin, kann ich ziemlich selbstgerecht sein. Und in diesem Fall saßen wir nun schon seit Stunden ohne Proviant in einem völlig überfüllten Bus, aber dieser blöde Flieger wartete nicht auf uns.

      Erst als der Flughafen endlich ausgeschildert war, wurde mir schlagartig bewusst, woher meine miese Stimmung wirklich rührte. Ich hatte Schiss!

      Ab dem Moment, in dem Clara durch die Passkontrolle marschierte, würde ich allein sein. Für elfeinhalb Monate. Gut, ich hatte eine alte Freundin in Santiago de Chile, aber die war im Augenblick gefühlt so weit weg, wie sie es auch tatsächlich war: am anderen Ende des südamerikanischen Kontinents. Ich war für das gesamte nächste Jahr allein. Jede Krise, sei sie körperlich, seelisch oder finanziell, würde ich allein meistern müssen. Mit einem Mal hatte ich eine Heidenangst. Am liebsten wollte ich Clara gar nicht gehen lassen. Ich war ohnehin kein Mann für Abschiede, wollte mich eher heimlich, still und leise aus dem Staub machen und wäre in diesem Moment am liebsten in Honduras geblieben. Und nun zog es sich endlos in die Länge, bis ihr Flug endlich ging. Über die Berge, über die Grenze, fast bis zum anderen Ozean, bis zum Flughafen von San Salvador. Wir redeten über das Studium, über unsere Freundschaft, über die Zukunft. Wir lagen auf der Wiese vor dem Check-in-Gebäude und warteten.

      Und plötzlich war sie weg. Auf dem Weg zurück in die USA, zu ihrer Familie, zurück in vertraute Kulturen. Und ich stand allein unter einer Palme auf dem Parkplatz des hässlichsten


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