Fettnäpfchenführer Weihnachten. Nadine Luck

Fettnäpfchenführer Weihnachten - Nadine Luck


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richtig entziffert zu haben, und legt die Waren in das komische Korbgefährt.

      »Mozzarella«, liest er etwa. Wo soll der denn sein? Wie finden sich die Menschen nur in diesem Geschäft zurecht? Müssen sie hier wirklich alles selbst einsammeln? Gurian braucht lange, bis er alles beisammen hat. Einmal muss er fragen, wo die Hefe ist. Seinen Ausflug aber findet er spannend. Was es alles gibt – und mehr noch: Was es alles nicht gibt! Er findet etwa nur eine kleine Auswahl an Limonaden vor. Seine Lieblingssorte, Limonade mit Ananas-Papaguri-Geschmack, ist leider nicht dabei. Aber klar, in so ein Geschäft passt nicht alles rein, was das Herz begehrt.

      Und dann entdeckt er an einem Tisch allerlei Naschwerk, das er so nicht kennt: Zwergenhafte Figuren in roten Mänteln und mit einer zipfeligen Kapuze auf dem Kopf. Vermutlich sind sie aus Schokolade, jedenfalls sind sie in buntes Silberpapier gewickelt. Gurian nimmt die Süßigkeiten für die Kinder mit, da freuen sie sich hoffentlich. »Lebkuchen«, »Dominosteine« und »Vanillekipferl« liest er auf Kekspackungen, auch das kommt mit, für Annette und Jürgen. Wie gerne hätte er der Familie farbewechselnde Schokolade oder sprechende Bonbons geschenkt, aber er konnte all das nicht aus der Zukunft mitnehmen. Dann muss er ihnen halt Mitbringsel aus ihrer eigenen Welt geben.

      Wieder daheim packt er stolz seine Einkäufe aus. Freudestrahlend geht er zu Annette und den Kindern in die Küche, um ihnen Lebkuchen, die Kapuzenmännchenschokolade, die sogenannten Vanillekipferl und diese Dominosteine zu überreichen. Er strahlt sie an. »Schaut mal, für euch, für heute Nachmittag, zum Naschen«, sagt er. »Und vielleicht gebt ihr mir auch was ab. Ich bin gespannt, wie das alles schmeckt.«

      »Oh, toll«, sagt Sophie strahlend, doch ihre Mama stürzt sofort auf ihn zu.

      »Gurian, pack das sofort weg! Das ist jetzt noch nichts«, sagt Annette. »Du willst uns doch nicht die Vorfreude auf den Advent vermiesen?«

      »Äh, nein, natürlich nicht. Ich will euch doch nur ein Geschenk machen.« Gurian versteht die Welt nicht mehr. Warum freut Annette sich nicht?

      »Pack das alles weg, sofort, das geht echt gar nicht«, zischt sie. »Hättest du nicht einfach Gummibärchen mitbringen können?«

      Wieso kann man diese Süßigkeiten jetzt nicht essen? In der Zukunft gibt es bei Lebensmitteln ein Mindesthaltbarkeitsdatum, von einem Zeitpunkt, vor dem etwas nicht gegessen werden darf, hat Gurian noch nie gehört. Verlegen und auch ein bisschen beleidigt nimmt er die Leckereien mit in sein Zimmer und räumt sie unters Bett. Er wollte der Familie doch nur eine Freude machen, warum mögen sie das nicht? Warum gehen diese Lebkuchen und die Schokolade jetzt gar nicht, warum wären Gummibärchen die bessere Wahl gewesen? Und warum werden die Sachen verkauft, wenn sie die Vorfreude auf diesen Advent, wer auch immer das ist, vermiesen können?

       O du Peinliche

      Kein Dominostein im Oktober, kein Lebkuchen vor dem ersten Advent – Menschen, die Weihnachtstraditionen aufrecht halten, richten sich nach diesem ungeschriebenen Gesetz. Das liegt nicht daran, dass ihnen Lebkuchen, Plätzchen und Dominosteine nicht schmecken würden – im Gegenteil: Ihnen ist das Gebäck besonders wertvoll. Die Naschereien, die oft mit besonderen Gewürzen gespickt sind, erst in der zauberhaften Vorweihnachtszeit zu genießen – das macht diese noch schöner. Die Magie des Advents wäre für traditionsliebende Menschen nicht dieselbe, wenn sie bereits im September und Oktober ständig Weihnachtsgebäck naschen würden. Plätzchen und Printen gehören für sie in die Zeit, in der die Familie an den Adventssonntagen in Vorfreude auf das nahende Weihnachtsfest zusammensitzt.

      Die Hollerbachs, die diese Tradition leben, sind keineswegs allein damit: 80 Prozent der Deutschen finden, dass Lebkuchen und Konsorten zu früh im Einzelhandel erhältlich sind. Nur neun Prozent können sich mit dem Verkaufsstart um den meteorologischen Herbstanfang, den 1. September, anfreunden. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Doch die Deutschen greifen offenbar trotz ihrer Skepsis beim frühen Lebkuchen zu, denn ein Drittel der Weihnachtsgebäckeinnahmen erzielt der Handel üblicherweise bereits im September, wie Hermann Bühlbecker, Geschäftsführer der Aachener Printen- und Schokoladenfabrik Henry Lambertz, der Zeitung Welt verriet. »Üblicherweise« sagte er, weil es auch vom Wetter abhängt: Mit der Niederschlagsmenge steigt die Lust auf Lebkuchen, bei Sonne bleibt es länger beim Eis-Hunger.

      Dennoch, die Feinde des frühen Lebkuchengenusses wollen nicht in Versuchung geführt werden: Durch die Medien geisterte bereits die Forderung, ein Gesetz einzuführen, das den Verkauf erst später im Jahr ermöglicht. Lambertz-Chef Bühlbecker empörte das. Gegenüber der Welt sagte er: »Wo kommen wir denn hin, wenn dem Verbraucher künftig per Gesetz vorgeschrieben wird, wann er welche Produkte kaufen kann? Dann müsste man auch Eis oder Erdbeeren im Winter verbieten. Wir sind hier nicht in der DDR.«

      Für Traditionalisten hat es indes einen besonderen Reiz in einer Zeit, in der das ganze Jahr über alles zu haben ist – Spargel im Winter, zur Nachspeise Erdbeeren mit Vanilleeis –, eine Nische für das Außergewöhnliche zu bewahren. Denn: Worauf sollen sich die Menschen überhaupt noch freuen, wenn der Lebkuchen schon ab 1. September auf dem Tisch steht, Weihnachtsdeko die Fenster im Oktober ziert und der Christbaum ab November in den Wohnzimmern nadelt? Wenn alles gleich verfügbar ist und dadurch beliebig wird? Außerdem: Die Gefahr ist groß, dass Menschen, die früh zu naschen beginnen, im Advent keine Lust mehr auf Plätzchen und Kipferl haben.

       DIE GESCHICHTE DES LEBKUCHENS

      Lebkuchen im Sommer zu essen – ist das tatsächlich ein respektloses Vergehen? Nun ja: Wenn man in die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg zurückgeht, lernt man Lebkuchen und Spekulatius als Ganzjahresgebäck kennen, das vornehmlich in Klöstern zubereitet wurde. Das lag daran, dass sich Mönche eher als Privathaushalte die teuren Zutaten leisten konnten. Zwischen 1618 und 1648 wurden diese allerdings zur Mangelware. Das geliebte Gebäck hielt man daher für die kalte Jahreszeit vor, in der es keine frischen Früchte mehr gab – und für besondere Anlässe. Um die Not der Hungernden etwas zu lindern, gaben ihnen die Mönche in schlimmen Zeiten von den süßen und energiespendenden Lebkuchen ab. Aus den Klöstern stammt übrigens auch die Lebkuchenvariante, bei der der Teig auf Oblaten platziert und gebacken wird. Darauf hält er besonders gut, und der Lebkuchen trocknet mit einer Oblate als Unterlage weniger schnell aus.

      Grundsätzlich aber beginnt die Geschichte des Lebkuchens deutlich vor dem 17. Jahrhundert und auch vor dem Mittelalter: Seine Vorläufer wurden bereits in der Antike genossen, was Hinweise aus dem Jahr 350 vor Christus belegen: Damals erfreuten sich die Ägypter bereits an Honigkuchen und legten sie ihren Verstorbenen mit ins Grab. Die Römer kosteten zu ihrer Zeit ein mit Honig bestrichenes panis mellitus.

      In seiner heutigen Form entstand der Lebkuchen um das 12. Jahrhundert herum im belgischen Dinant, von wo aus er seinen Weg nach Aachen fand. In Ulm wurde er als »Pfefferkuchen« erwähnt – 1296. Keine Sorge aber: Aus Pfeffer bestand er deshalb nicht zwingend, denn zu jener Zeit wurden alle fremdländischen Gewürze mit dem Begriff Pfeffer bezeichnet. Der Begriff Lebkuchen hängt indes vermutlich mit dem mittellateinischen Begriff libum – für Fladen – zusammen; möglich ist allerdings auch eine Verwandtschaft zum Begriff Laib, wie in »Brotlaib«.

      Jedenfalls: Immer beliebter wurden Lebkuchen – und zwar vorwiegend an den Knotenpunkten großer Handelsstraßen wie Nürnberg, Augsburg, Ulm oder Köln, da es dort vergleichsweise einfach war, exotische Gewürze für ihre Zubereitung zu bekommen. Vom 19. Jahrhundert an wurden sie schließlich auch auf den immer häufiger werdenden Weihnachtsmärkten verkauft.

      Über die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg hat sich in der Folge eine immense Vielfalt an Lebkuchen entwickelt, von Aachener Printen hin zu Elisenlebkuchen. Obendrein haben Familien ihre eigenen Rezepte kreiert. Gemeinsam haben die meisten Sorten, dass sie überwiegend aus Weizenmehl bestehen sowie aus Honig als Süßungsmittel. Ein Merkmal ist außerdem, dass Lebkuchen kräftige exotische Gewürze etwa von Anis über Nelken bis Zimt enthalten; gern sind sie außerdem mit Nüssen verfeinert. Wasser, Milch und Fett sind eher nicht drin. Trocken und zuckerreich, wie Lebkuchen sind, sind sie lange haltbar.

      Übrigens: In


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