Franz Kafka: Sämtliche Werke. Knowledge house
inzwischen waren Diebe da.“ „Fehlt denn etwas?“ fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier. „Ich weiß nicht“, rief Karl, „aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine Unvorsichtigkeit sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu lassen.“ Delamarche und Robinson lachten und der erstere sagte: „Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt und Sie brauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, daß Sie in Ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten und haben das Schloß solange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im übrigen war ja gar nichts drin und Sie können alles wieder ruhig einpacken.“ „So“, sagte Karl, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurückschnellte, um erst dann in großem Erguß in die Tiefe zu rollen. „Haben Sie schon zu ende gegessen?“ fragte er, als sich die beiden einen Augenblick verschnauften. „Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?“ fragte Delamarche, der glaubte, Karl beanspruche seinen Anteil. „Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich“, sagte Karl und gieng zu seinem Koffer. „Der scheint Launen zu haben“, sagte Delamarche zu Robinson. „Ich habe keine Launen“, sagte Karl, „aber ist es vielleicht recht in meiner Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen. Ich weiß man muß unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das ist zuviel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß den Korb zurückgeben.“ „Siehst Du Robinson, so spricht man“, sagte Delamarche, „das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt – weil ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat – verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehn, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben.“ Karl, der seine Sachen packte, sagte ohne sich umzuwenden: „Reden Sie nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehn. Ich weiß ganz gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt und keiner kann mir vorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie Delamarche und Sie Robinson, Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen. Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Sie mißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk – damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen Robinson. Gegen Ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.“ „Da sehn wir ja“, sagte Delamarche indem er zu Karl trat und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, „da sehn wir ja wie Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du Robinson, wir beneiden ihn – meint er – um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford – von Kalifornien gar nicht zu reden – und wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also nur immer Achtung aufs Maul!“ Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen. „Wenn ich noch lange hierbliebe“, sagte er, „könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu haben, mich durchzuprügeln.“ „Alle Geduld hat ein Ende“, sagte Robinson. „Sie schweigen besser, Robinson“, sagte Karl, ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, „im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten.“ „Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?“ fragte Delamarche. „Fällt mir nicht ein“, sagte Karl. „Ich bin froh, daß ich fortgehe und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, daß ich Geld besitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen, daß es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst paar Stunden kannte und bestätigen Sie nicht noch durch Ihr jetziges Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?“ „Bleib ruhig“, sagte Delamarche zu Robinson, trotzdem sich dieser nicht rührte. Dann fragte er Karl: „Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemütlich beisammen stehn, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehn Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen.“ Karl mußte einen Schritt über den Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im Gras liegen geblieben war und wiederholte seine Frage.
Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: „Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat dringend braucht.“ „Hier ist er“, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: „Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden andern Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier auf der Lehne ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.“ „Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen“, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne weiters mitnehmen werde. „Für diesen Fall“, sagte der Kellner, „habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.“ „Dann warten Sie bitte noch einen Augenblick“, sagte Karl und bückte sich um die paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.
Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie hatte ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie fehlte. „Ich kann die Photographie nicht finden“, sagte er bittend zu Delamarche. „Was für eine Photographie?“ fragte dieser. „Die Photographie meiner Eltern“, sagte Karl. „Wir haben keine Photographie gesehn“, sagte Delamarche. „Es war keine Photographie drin, Herr Roßmann“, bestätigte auch Robinson von seiner Seite. „Aber das ist doch unmöglich“, sagte Karl und seine Hilfe suchenden Blicke zogen den Kellner näher. „Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten.“ „Jeder Irrtum ist ausgeschlossen“, sagte Delamarche, „in dem Koffer war keine Photographie.“ „Sie war mir wichtiger, als alles was ich sonst im Koffer habe“, sagte Karl zum Kellner, der herumgieng und im Grase suchte. „Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.“ Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: „Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.“ Daraufhin sagte der Kellner laut ohne jede Beschönigung: „Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.“ „Ja“, sagte Karl sofort, „ich muß die