1177 v. Chr.. Eric H. Cline

1177 v. Chr. - Eric H. Cline


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Beginn des 19. Jahrhunderts traten dann Entdecker wie Johann Ludwig Burckhardt auf den Plan, ein Schweizer, der sich seine Nachforschungen vor Ort dadurch erleichterte, dass er sich in orientalische Gewänder kleidete (und sich selbst »Scheich Ibrahim« nannte). Forscher wie er waren es, die im Inneren der Türkei die Überreste einer bisher unbekannten Zivilisation aus der Bronzezeit entdeckten. Und irgendwann zählte man endlich zwei und zwei zusammen: Im Jahr 1879 verkündete der angesehene Assyriologe Archibald H. Sayce auf einer Konferenz in London, die Hethiter hätten gar nicht in Kanaan gelebt, sondern in Anatolien, also in der Türkei und nicht im Raum Israel/Libanon/Syrien/Jordanien. Seine Ausführungen fanden allgemeine Zustimmung und besitzen noch heute Gültigkeit, auch wenn man sich fragen muss, wie die Bibel so falsch liegen konnte.

      Des Rätsels Lösung ist so einfach wie logisch: So wie sich das britische Empire auf Gebiete erstreckte, die weit von den britischen Inseln entfernt lagen, gehörten auch zum Hethiterreich Regionen im Westen der Türkei und im Süden, in Syrien. Und genau so wie man in einigen Teilen des längst verschwundenen britischen Weltreiches noch heute Kricket spielt und seinen Nachmittagstee einnimmt, hielten sich auch in Teilen des ehemaligen Hethitischen Reiches im nördlichen Syrien Überreste der hethitischen Kultur, Sprache und Religion – und zwar so deutliche, dass wir jene Kultur, die im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. blühte, als Neo-Hethiter bezeichnen. Dem heutigen Forschungsstand nach wurde das Alte Testament irgendwann zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert v. Chr. verfasst; zu jener Zeit gab es die ursprünglichen Hethiter schon lange nicht mehr. Doch ihre Nachfolger, die Neo-Hethiter, lebten fest etabliert im Norden Kanaans. Und dort interagierten sie zweifellos mit den Israeliten und anderen Völkern der Levante. Das führte zu ihrer Erwähnung in der Bibel, was wiederum die späteren Entdecker der Suche nach den Original-Hethitern verwirrte.53

      Was noch dazukam: Als die Archäologen schließlich begannen, die Stätten der Hethiter auszugraben und die zahlreichen Tontafeln, die sie dort fanden, zu übersetzen, wurde schnell klar, dass sich dieses Volk selbst gar nicht als »Hethiter« bezeichnet hatte. Der Name, den sie sich selbst gaben, war eher so etwas wie »Nēšiter« oder »Nēšier«, nach der Stadt Nēša (die heute als Kültepe Kaniš bekannte Ausgrabungsstätte in Kappadokien in der Türkei). Diese Stadt blühte etwa 200 Jahre lang, als Sitz einer lokalen indoeuropäischen Dynastie, bevor König Hattušili I. (das bedeutet »der Mann aus Hattuša«) irgendwann um 1650 v. Chr. seine Hauptstadt weiter nach Osten verlegte und ihr eben diesen Namen gab: Hattuša. Wir nennen dieses Volk nur heute noch »Hethiter«, weil dieser Name bereits seinen festen Platz in der wissenschaftlichen Literatur hatte, bevor man die Tafeln mit ihrem eigentlichen Namen entdeckte und übersetzte.54

      Die Lage der neuen Hauptstadt Hattuša war sorgfältig ausgewählt. Sie war so gut befestigt und so günstig gelegen (der einzige Zugang zur Stadt war ein enges Tal), dass sie während ihrer ganzen 500-jährigen Geschichte nur zwei Mal erobert wurde, offenbar beide Male von einem benachbarten Stamm, den Kaška. Ab 1906 gruben dort deutsche Archäologen wie Hugo Winckler, Kurt Bittel, Peter Neve und Jürgen Seeher, und sie fanden Tausende von Tontafeln. Darunter sind Briefe und Dokumente aus dem offiziellen Staatsarchiv, aber auch Gedichte, Erzählungen, Geschichten, Beschreibungen religiöser Rituale und viele andere Dokumente. Diese Texte geben uns einen Einblick nicht nur in die Geschichte der hethitischen Herrscher und in ihre Interaktionen mit anderen Völkern und Königreichen; sie verraten uns auch viel über die ganz normalen Bürger und ihr tägliches Leben, über die hethitische Gesellschaft, das Glaubenssystem und die Rechtsordnung. In den letzteren Bereich fällt die faszinierende Anweisung: »Wenn jemand einem freien Menschen die Nase abbeißt, so soll er 40 Schekel Silber zahlen«55 (und man fragt sich unweigerlich, wie oft das wohl vorgekommen sein mag).

      An einer Stelle heißt es, ein hethitischer König namens Muršili I., der Enkel und Nachfolger des oben erwähnten Hattušili I., sei im Jahr 1595 v. Chr. mit seiner Armee über 1000 Meilen bis nach Mesopotamien marschiert, habe die Stadt Babylon angegriffen, sie niedergebrannt und damit eine 200 Jahre alte Dynastie vernichtet, die einst durch Hammurabi, den »Gesetzgeber«, begründet worden war. Doch anstatt die Stadt zu besetzen, machte er mit seiner hethitischen Armee einfach kehrt und ging nach Hause – dies war das wohl längste drive-by-shooting der Weltgeschichte. Ein wohl eher unbeabsichtigter Nebeneffekt seines Überfalls war, dass es einem bisher unbekannten Stamm, den Kassiten, gelang, die Stadt Babylon zu besetzen und mehrere Jahrhunderte lang zu regieren.

      Die erste Hälfte der hethitischen Geschichte nennt man das »alte Königreich«, und zu jener Zeit lebten berühmte Könige wie Muršili. Doch für uns ist hier eher die zweite Hälfte interessant: Während dieser Zeit, der späten Bronzezeit zwischen dem Beginn des 15. und den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts v. Chr., blühte das hethitische Reich und stieg zu nie gekannten Höhen auf. Einer der berühmtesten Könige jener Epoche war Šuppiluliuma I., den wir im nächsten Kapitel kennenlernen werden und der den Hethitern eine herausragende Stellung im alten Orient verschaffte, indem er große Gebiete eroberte und sich als ebenbürtiger Antipode der Pharaonen des Neuen Reiches in Ägypten erwies. Eine verwitwete ägyptische Königin bat Šuppiluliuma sogar darum, ihr einen seiner Söhne als Ehemann zu senden, und verkündete, jener würde mit ihr zusammen über Ägypten herrschen. Wir wissen nicht, welche Königin bzw. wessen Witwe das war, doch wie wir später sehen werden, glauben einige Forscher, dass es sich dabei um Anchesenamun handelte und beim toten König um Tutanchamun.

      Kehren wir noch einmal zum Jahr 1430 v. Chr. zurück, als sich die Hethiter und ihr König Tudhalija I./II. mit einer Koalition abtrünniger Staaten auseinandersetzen mussten. Diese Staaten bezeichnete man kollektiv als »Aššuwa«. Ihr Standort war der Nordwesten der Türkei, gleich bei den Dardanellen, wo im Ersten Weltkrieg die Schlacht von Gallipoli stattfand. Die hethitischen Tontafeln nennen uns die Namen aller 22 verbündeten Staaten, die sich gegen die Hethiter auflehnten. Die meisten dieser Namen sagen uns heute nichts mehr und lassen sich auch nicht verorten, mit Ausnahme der beiden letzten auf der Liste: Wilusiya und Taruisa – diese verweisen wahrscheinlich auf Troja und seine Umgebung.56 Der Aufstand begann offenbar, als Tudhalija I./II. und seine Armee von einem Feldzug in Westanatolien zurückkehrten. Als der hethitische König von der Rebellion erfuhr, kehrte er mit seiner Armee sofort um und marschierte nach Nordwesten, nach Aššuwa, um den Aufstand niederzuschlagen. Wie der hethitische Bericht uns mitteilt, stand Tudhalija persönlich an der Spitze seiner Armee und besiegte die Konföderation von Aššuwa.

      Die Aufzeichnungen zeigen, dass man aus Aššuwa 10.000 Soldaten, 600 Pferdegespanne mitsamt Wagenlenkern sowie »die eroberte Bevölkerung, Ochsen, Schafe, [und] den Besitz des Landes« mit nach Hattuša brachte, als Gefangene und Beute.57 Darunter befand sich der König von Aššuwa und sein Sohn Kukkuli, ein paar weitere Mitglieder der Königsfamilie von Aššuwa und deren Angehörige. Schließlich ernannte Tudhalija Kukkuli zum König von Aššuwa und installierte Aššuwa wieder als Vasallenstaat des Hethitischen Reiches. Kukkuli jedoch hatte nichts Besseres zu tun, als seinerseits prompt zu rebellieren, nur um ebenfalls von den Hethitern besiegt zu werden. Kukkuli wurde hingerichtet, die Koalition von Aššuwa wurde zerstört und verschwand komplett von der Bildfläche. Ihr Vermächtnis lebt in erster Linie in der Bezeichnung »Asien« weiter, möglicherweise aber auch im Mythos vom Trojanischen Krieg, denn die Namen Wilusiya und Taruisa weisen nach Meinung mancher Wissenschaftler eine starke Ähnlichkeit auf zu den bronzezeitlichen Namen für die Stadt Troja/Ilion und deren umgebende Landschaft, die Troas.

      Hier kommt nun das Schwert ins Spiel, das man in Hattuša fand, mit der Inschrift von Tudhalija I./II., denn – wie oben erwähnt – wurde es nicht vor Ort hergestellt. Schwerter dieser Art kennt man in erster Linie vom griechischen Festland des 15. Jahrhunderts v. Chr. Es handelt sich nämlich um ein mykenisches Schwert (oder zumindest eine sehr gute Imitation eines mykenischen Schwertes). Warum ein solches Schwert beim Aufstand von Aššuwa verwendet wurde, ist eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen; wurde es von einem Aššuwa-Soldaten benutzt, von einem mykenischen Söldner oder vielleicht von jemand ganz anderem?

      Neben einem ausführlichen Bericht gibt es noch fünf weitere hethitische Tontafeln, die Aššuwa und/oder den Aufstand erwähnen. Eine


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