Märchen aus China. Richard Wilhelm

Märchen aus China - Richard Wilhelm


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ließ nicht ab, ihr zuzureden, und schließlich gab sie nach und setzte sich am Rand des Weges nieder. »Ich will dir deine Haare ein bisschen kämmen«, sprach der Panther.

      So ließ sich die Frau vom Panther die Haare kämmen. Wie er ihr aber mit seinen Krallen durch die Haare fuhr, da riss er ihr ein Stück Haut ab und fraß es.

      »Halt!« schrie die Frau. »Das tut weh, wie du mich kämmst!«

      Aber der Panther riss ihr ein noch viel größeres Stück Haut ab. Nun wollte die Frau um Hilfe rufen. Da packte sie der Panther und fraß sie auf. Dann wandte er sich zu ihrem Söhnchen und biss es auch tot. Er zog die Kleider der Frau an und tat die Knochen des Kindes, die er noch nicht gefressen hatte, in ihren Korb.

      So ging er nach dem Haus der Frau, wo die beiden Töchter waren, und rief zur Tür hinein: »Macht auf, ihr Töchter! Eure Mutter ist gekommen.«

      Sie aber sahen zu einer Spalte heraus und sprachen: »Unsere Mutter hat keine so großen Augen.«

      Da sagte der Panther: »Ich war bei der Großmutter und habe gesehen, wie ihre Hühner Eier legen; das hat mich gefreut, und deshalb habe ich so große Augen bekommen.«

      »Unsere Mutter hat keine solchen Flecken im Gesicht.«

      »Die Großmutter hatte kein Bett, und da musste ich auf Erbsen schlafen; die haben sich mir ins Gesicht gedrückt.

      »Unsere Mutter hat nicht so große Füße.«

      »Dummes Gesindel! das kommt vom langen Laufen. Macht jetzt rasch auf!«

      Da sagten die Töchter zueinander: »Es muss wohl unsere Mutter sein« und machten auf. Als aber der Panther hereinkam, da sahen sie, dass es doch nicht ihre rechte Mutter war.

      Abends, als die Töchter schon im Bett waren, da nagte der Panther noch an den Knochen des kleinen Jungen, die er mitgebracht.

      Da fragten die Töchter: »Mutter, was isst du da?«

      »Ich esse Rüben«, war die Antwort.

      Da sagten die Töchter: »Mutter, gib uns auch von deinen Rüben! Wir haben solchen Hunger.«

      »Nein«, war die Antwort, »ich gebe euch keine. Seid ruhig und schlaft!«

      Die Töchter aber baten so lange, bis die falsche Mutter ihnen einen kleinen Finger gab. Da sahen die Mädchen, dass es der Finger von ihrem Brüderchen war, und sie sagten zueinander: »Wir wollen eilig fliehen, sonst frisst sie uns auch noch.«

      Damit liefen sie zur Tür hinaus, kletterten auf einen Baum im Hof und riefen der falschen Mutter zu: »Komm heraus! Wir können sehen, wie der Nachbarsohn Hochzeit macht.« Es war aber mitten in der Nacht.

      Da kam die Mutter heraus, und wie sie sah, dass sie auf dem Baum saßen, da rief sie ärgerlich: »Ich kann ja doch nicht klettern.«

      Da sagten sie: »Setz’ dich in einen Korb und wirf uns das Seil zu, so wollen wir dich heraufziehen!«

      Die Mutter tat, wie sie gesagt. Als aber der Korb in halber Höhe war, da schwangen sie ihn hin und her und stießen ihn gegen den Baum. Da musste sich die falsche Mutter wieder in einen Panther verwandeln, damit sie nicht herunterfiel. Der Panther sprang aus dem Korbe und lief weg.

      Allmählich wurde es Tag. Die Töchter stiegen herab, setzten sich vor ihre Tür und weinten um ihre Mutter. Da kam ein Nadelverkäufer vorüber, der fragte, warum sie weinten.

      »Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er weg, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

      Da gab der Nadelverkäufer ihnen ein paar Nadeln und sagte: »Steckt sie in das Kissen auf dem Stuhl mit der Spitze nach oben.« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

      Dann kam ein Skorpionfänger vorüber; der fragte sie, warum sie weinten.

      »Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er weg, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

      Da gab er ihnen einen Skorpion und sagte: »Setzt den hinter den Herd in der Küche!« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

      Da kam ein Eierverkäufer vorüber, der fragte, warum sie weinten.

      »Ein Panther hat unsere Mutter und unseren Bruder gefressen«, sagten die Mädchen. »Jetzt ist er fort, aber er kommt sicher wieder und frisst uns auch.«

      Da gab er ihnen ein Ei und sprach: »Legt das in die Asche unter den Herd.« Die Mädchen bedankten sich und weinten weiter.

      Da kam ein Schildkrötenhändler vorüber, und sie erzählten ihre Geschichte. Da gab er ihnen eine Schildkröte und sagte: »Setzt sie in das Wasserfaß im Hof.« Da kam ein Mann vorüber, der hölzerne Keulen verkaufte. Er fragte sie, warum sie weinten. Und sie erzählten ihm die ganze Geschichte. Da gab er ihnen zwei hölzerne Keulen und sagte: »Die hängt auf über dem Tor an der Straße!« Die Mädchen bedankten sich und taten, wie die Männer gesagt.

      Als es Abend wurde, kam der Panther nach Hause. Er setzte sich auf den Stuhl im Zimmer. Da stachen ihn die Nadeln im Kissen. Dann lief er in die Küche, wollte Feuer machen und sehen, was ihn so gestochen; da schlug ihm der Skorpion seinen Stachel in die Hand. Und als das Feuer schließlich brannte, da platzte das Ei und sprang ihm ins Auge, und er ward auf einem Auge blind. Da lief er in den Hof und tauchte seine Hand ins Wasserfaß, um sie zu kühlen. Da biss ihm die Schildkröte die Hand ab. Vor Schmerz rannte er zum Tor hinaus auf die Straße, da fielen ihm die hölzernen Knüppel auf den Kopf und schlugen ihn tot.

      10. Das große Wasser

      Es war einmal eine Witwe, die hatte ein Kind. Das Kind hatte ein gutes Herz, und alle Leute hatten es lieb. Eines Tages sagte das Kind zu seiner Mutter: »Alle anderen Kinder haben eine Großmutter, ich allein habe keine. Das macht mich sehr traurig.«

      »Wir wollen dir eine Großmutter suchen«, sagte die Mutter. Nun kam einmal eine alte Bettlerin vors Haus, die war sehr arm und schwach. Als das Kind sie sah, sprach es zu ihr: »Du sollst meine Großmutter sein!« Und es ging zu seiner Mutter und sagte: »Draußen ist eine Bettlerin, die will ich als Großmutter haben.« Die Mutter war es zufrieden und rief sie ins Haus. Die Alte aber war sehr schmutzig und voll von Ungeziefer. Da sagte der Junge zu seiner Mutter: »Komm, wir wollen die Großmutter waschen!« So wuschen sie die Frau. Die aber hatte sehr viele Läuse. Die suchten sie alle und taten sie in einen Topf. Der ganze Topf ward voll davon. Da sprach die Großmutter: »Werft sie nicht weg; vergrabt sie im Garten! Und ihr sollt sie erst wieder ausgraben, wenn das große Wasser kommt.«

      »Wann kommt denn das große Wasser?« fragte der Knabe.

      »Wenn den zwei steinernen Löwen vor dem Gefängnis die Augen rot werden, dann kommt das große Wasser«, sagte die Großmutter.

      Da lief der Knabe zu den Löwen, aber ihre Augen waren noch nicht rot. Die Großmutter sprach auch zu ihm: »Mach ein kleines Schiff aus Holz und verwahre es in einem Kästchen!« Das tat der Junge. Jeden Tag lief er nun zum Gefängnis und sah die Löwen an, also dass die Leute auf der Straße sich darüber verwunderten.

      Eines Tages, als er beim Hühnerschlächter vorbeikam, fragte ihn der, warum er immer zu den Löwen laufe. Da sagte der Junge: »Wenn den Löwen die Augen rot werden, so kommt das große Wasser.« Der Schlächter aber lachte ihn aus. Und am anderen Morgen in aller Frühe nahm er Hühnerblut und strich es den Steinlöwen auf die Augen. Als der Junge sah, dass die Löwen rote Augen hatten, lief er schnell nach Hause und sagte es seiner Mutter und Großmutter. Da sprach die Großmutter: »Grabt nun rasch den Topf aus und holt das Schifflein aus dem Kasten!« Als sie den Topf ausgruben, waren lauter echte Perlen darin, und das Schiff wurde größer und größer, wie ein wirkliches Schiff. Die Großmutter sprach: »Nehmt den Topf mit euch und steigt in das Schiff! Wenn nun das große Wasser kommt, so mögt ihr die Tiere, die daher getrieben werden, retten; aber die Menschen, die Schwarzköpfe, sollt ihr nicht retten!« Da stiegen sie ins Schiff, und die Großmutter war auf einmal


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