Thomas von Kempen. Thomas von Kempen
freizügig umgingen und in den Kirchengemeinden Anstoß erregten. (Weitere, hier nicht weiter aufzuführende Gesichtspunkte ergeben sich aus mancherlei Beziehungen zum Humanismus und seinen pädagogischen Zielsetzungen sowie zu Fernwirkungen, die auf die Reformation verweisen.)15
Was nun Thomas von Kempen (auch: Maleolus a Kempis, gestorben 1471) anlangt, dessen ursprünglicher Name Hemerken (d.i. Hämmerchen) war und der von Kempen am Niederrhein stammte, so führte er als Augustiner Chorherr ein betont nach innen gekehrtes Leben. Sein älterer Bruder Johannes, der als Augustiner selbst der Windesheimer Kongregation angehörte, hatte ihn auf die Brüder vom gemeinsamen Leben aufmerksam gemacht. Anlässlich einer Wallfahrt lernte er etwa zwanzigjährig im Jahr 1399 das Chorherrnstift Agnetenberg bei Zwolle kennen. Nach der üblichen Vorbereitungszeit als Novize und Donatus verband er sich durch Verpflichtung auf die ewigen Gelübde mit den Augustinern und erlangte die Priesterweihe. Agnetenberg wurde unter seiner Leitung als Subprior und Novizenmeister zu einem Zentrum der von Geert Groote begründeten Devotio moderna. „Neben seinen Verpflichtungen als Geistlicher und Inhaber von Ämtern bestand seine Tätigkeit im Schreiben von Büchern: im Kopieren fremder und im Verfassen eigener Werke (seit etwa 1420). Am 1. Mai oder 25. Juli 1471 starb er in Agnetenberg.“16 Die Tatsache, dass allein vier vollständige Abschriften der Bibel auf Thomas von Kempen zurückgehen, veranschaulicht, welches Ausmaß diese Schreibarbeit entwickelt hat.
Von 38 eigenen Schriften abgesehen, führte seine umfangreiche Abschreibetätigkeit zur Kompilation der Nachfolge Christi, durch die er berühmt geworden ist. Thomas verstand sich im Übrigen nicht als auctor, sondern als scriptor (Schreiber). Das ist nicht zuletzt angesichts der Tatsache zu berücksichtigen, dass die Verfasserschaft des Buches lange Zeit hindurch umstritten war. Mehrere prominente Persönlichkeiten des geistlichen Lebens vermutete man hinter dem in zahlreichen Handschriften verbreiteten und viel gelesenen Buch. Erhalten hat sich ein Autograf, also ein aus des Kempeners eigener Hand verfasstes vollständiges Nachfolge-Buch. Gegen 40 Namen wurden als mögliche Autoren vermutet, darunter Geert Groote, sowie andere Mitglieder der Devotio oder gar Bernhard von Clairvaux! Das entsprach einer zusätzlichen bedeutenden Aufwertung der Nachfolge Christi. Abgesehen davon, dass der spirituelle Rang eines Buches nicht allein von seinem etwaigen Autor abhängt, wird man davon ausgehen können, dass Thomas von Kempen die ihm zugänglich gewordenen Textteile in einem abschließenden Arbeitsgang zusammengefügt, bearbeitet und schließlich herausgegeben hat. Ausschlaggebend konnte nur der Gehalt des vierteiligen Buches sein. Und das Ergebnis zeigt, wie gut der „Scriptor“ seine Bibel kennt und wie vertraut ihm aber auch Texte der Philosophie wie der Kirchenväter gewesen sein müssen, nicht zu vergessen Bernhard von Clairvaux, um einer solchen Arbeit gewachsen zu sein. Dazu bemerkt Johanna Lanczkowski:
„Das Heilbringende und Vorbildhafte des Lebens Jesu soll den Menschen zur Demut, zur Liebe, zu Leid und Kreuz und Leidensnachfolge aufrufen, um ihn auf den Weg des Heils zu führen. Thomas von Kempen hat mit seiner Imitatio Christi den Geist der Mystik weltweit bekannt gemacht und durch die Jahrhunderte lebendig gehalten.“17
DIE NACHFOLGE CHRISTI IN VIER BÜCHERN
Die Schrift setzt sich aus vier Büchern zusammen. Weil sie als Spruchsammlungen nicht streng strukturiert sind, war es seit den Tagen ihrer Niederschrift nicht schwer, die einzelnen Buchteile in unterschiedlicher Reihenfolge oder auch nur teilweise zu vervielfältigen. Wie ersichtlich, handelt es sich um eine Blütenlese von Weisheitsworten. Eine als „Rapiarium“18 bezeichnete Anthologie hatte die Aufgabe, die Leserschaft mit richtungweisenden Leitworten zu versorgen, seien es solche aus der Heiligen Schrift oder seien die Zitate anderen kirchlichen oder sonstigen literarischen Quellen entnommen. Groß ist daher der Anteil an biblischen Texten. Andere wichtige Quellen stellen Wortlaute des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux dar. Als einflussreich erwies sich der Dominikaner und spätere Kartäuser Ludolf von Sachsen (gestorben 1378). Durch Geert Groote fand seine Vita Jesu Christi Eingang in die Devotio moderna, wo sie geradezu zur Standardlektüre erhoben wurde. Dieser Vita war ihrerseits eine weitreichende Wirkung beschieden.19 Sie gehörte z.B. zum Lesestoff, der Ignatius von Loyola auf seinem Krankenlager zur Verfügung stand und der ihn für die Meditationsanweisungen in seinem Exerzitienbuch inspirierte.
Das erste Buch der Nachfolge Christi bietet Ratschläge und Ermahnungen (admonitiones), wie sie Menschen innerhalb wie außerhalb eines Klosters zur spirituellen Lebensgestaltung mit Blick auf die Nachfolge Jesu Christi nützlich sein können. Und wenn die in Bruder- und Schwesternhäusern Lebenden, abgesehen von den Augustiner Chorherren der Windesheimer Kongregation, sich keiner strikten Ordensregel unterwarfen, so stellen Kloster und Zelle zumindest ein Gleichnis für die eigene Innerlichkeit dar. Prinzipiell geht es darum, sich in das Leben des Herrn zu versenken und als Vorbild für das eigene geistliche Unterwegssein zu betrachten. Wenn beispielsweise der Rat gegeben wird, das Herz möge sich von allen Äußerlichkeiten um des Ewigen willen abwenden, so ergibt sich aus heutiger Sicht daraus eine überaus befremdliche weltdistanzierte Einstellung. Sie beherrscht ohnehin die Spiritualität der Devotio moderna im Allgemeinen und des Nachfolge-Buches im Besonderen. Diese Einseitigkeit soll jedenfalls nicht verschwiegen werden.
Derselben Haltung entspricht die in diesen Kreisen zu beobachtende Skepsis gegenüber allzu abgehobenen Spekulationen, wie sie aus der zeitgenössischen Philosophie und der scholastischen Theologie bekannt geworden sind. Daher konnte es nur verpönt sein, wenn ein Priester und Theologe sich etwas auf seinen geistlichen Status zugute tut, es jedoch an einer ernsthaften spirituellen Gesinnung und Ethik mangeln lässt. Umso mehr wird die zeitbedingte praktizierbare Frömmigkeit geschätzt, um den in Kirche und Gesellschaft sich abzeichnenden Niedergangserscheinungen durch eine umso strengere Askese entgegenzutreten. Alle Übung dient dem Ziel einer nüchternen Selbsterkenntnis und als Demut deklarierten kritischen Selbsteinschätzung. So gesehen sind es die Ideale des mönchischen Lebens, wie sie nach der Überzeugung der Devoten das Leben eines jeden Christen bestimmen sollten. Mit anderen Worten:
„Eine große Hilfe zu einem wahrhaft mönchischen Leben ist das Vorbild der heiligen Väter und systematische Übungen (exercitia). Am fruchtbarsten ist indes die Einsamkeit und Stille der Zelle, so kann man Gott am besten dienen. ‚In der Zelle wirst du finden, was du draußen oft verlierst. Dauernd in der Zelle zu sein, macht sie köstlich ... In Schweigsamkeit und Stille gedeiht die andächtige Seele und lernt die Geheimnisse der Schrift.‘ “20
Mehr noch: Im 20. Kapitel gibt Thomas den Rat, Jesus als den Geliebten der Menschenseele einzuladen und die Türe der Zelle zu verschließen. Mit keinem als mit diesem Gast werde der Meditierende den ersehnten inneren Frieden empfangen.
Im zweiten Buch kommt die mystische Note der Christus-Nachfolge in der Weise zur Geltung, dass der Kompilator der Schrift darauf bedacht ist, dem inneren Meister eine ihm angemessene Wohnung, das heißt eine entsprechende geistigseelische Beheimatung zu schaffen. Deshalb das Insistieren auf Reinheit und Einfalt des Herzens, auf die Schärfung des Gewissens und die Herstellung eines inneren Friedens. Auch hier wird Jesus als Freund und Geliebter geachtet, der in der Herzenstiefe wohnen möge. Mit Recht wird das 12. und letzte Kapitel dieses zweiten Buches als Höhepunkt bezeichnet, geht es doch um den „Königsweg des Kreuzes“. Daher der Hinweis: „Wandle, wo du willst, suche, was du willst, du wirst keinen Weg höher hinauf, noch einen sichereren nach unten finden als den Weg des heiligen Kreuzes!“
Das dritte Buch bietet mancherlei Anklänge an das in den beiden vorausgegangenen Buchteilen Gesagte. Der Schreiber will seinen Lesern in der Weise einen inneren Zuspruch vermitteln, dass er die Bereitschaft zu einem inneren Hören zu wecken versucht. Er tut es in Anlehnung an Psalm 84: „Ich will hören, was Gott der Herr in mir spricht.“ Dies lässt sich als eine Einladung zur Kontemplation verstehen, in der der Übende jene Stille herstellt, die nötig ist, damit das wortlose Wort vernommen werden kann. Von daher ergibt sich auch eine dialogische Struktur, nach der der innere Christus zur menschlichen Seele spricht. Und deren Antwort kann nur ein beseligendes Hören und Schweigen sein.
Gipfelt das zweite Buch in dem erwähnten Kapitel vom