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und Verständnis genug besitzen, wenn uns wirkliche Einfühlung in die Seele der Natur gelingt, so werden wir hinter ihrem gewöhnlichen Alltags-Ich ihr wahres Ich erblicken, ebenso wie die wenigen, die von einem Großen vertrautere Kenntnisse haben, den wahren Menschen erblicken hinter dem Mann, wie er der Allgemeinheit erscheint – den wahren Beaconsfield oder Kitchener hinter dem Beaconsfield oder Kitchener der Tagespresse. Und in dem Maß, wie wir mehr von diesem wahren Ich der Natur erkennen und es uns besser gelingt, in harmonischen Zusammenhang mit ihr zu kommen, werden wir auch höhere Schönheit in ihr erblicken.

      Ist unsere Seele klein und armselig, so werden wir mit der großen Naturseele nur wenig Gemeinsames besitzen und infolgedessen auch nur eine oberflächliche Schönheit sehen. Haben wir eine große Seele, so wird mehr Gemeinsames zwischen uns bestehen, und wir werden mehr Schönheit erkennen. Um aber zum vollen Verständnis der wahren Natur zu gelangen, müssen wir sie unter jedem Gesichtspunkt betrachten und sie von allen Seiten sehen.

      So nur werden wir ihr wahres Selbst erfassen und ihre volle Schönheit schauen können. Ihr Bild aber und die Gesichtspunkte, unter denen es zu betrachten ist, wechseln so unaufhörlich, dass auch der Größte unter uns verzagt. Je mehr wir von der Natur sehen, desto mehr, entdecken wir, gilt es in ihr zu begreifen.

      Und je tiefer wir sie erfassen und mit ihr Zwiesprache halten, desto mehr Schönheit gilt es zu schauen. Aber zu vollem Verständnis der Natur zu gelangen, ihre ganze Schönheit zu schauen, geht über die Befähigung von uns Sterblichen hinaus.

      Dennoch treibt es uns, fort und fort danach zu streben, dass wir so viel sehen wie nur möglich. Auf den folgenden Seiten soll versucht werden zu zeigen, wie sich noch mehr Schönheit in der Natur entdecken lässt.

      Oft habe ich im Himalaja zugeschaut, wie ein Adler über mir kreiste. Ich habe am Berghang gesessen und seinen hoheitsvollen Segelflug verfolgt, die vollendete Leichtigkeit und Ausgeglichenheit in seinem anmutsvollen Kreisen und Schwingen. Himmelhoch über der Erde zog sein Flug, und scheinbar mühelos glitt er über Landstriche hinweg, die zu betreten uns armen Menschenwesen nur durch ungeheure Kräfteanspannung möglich wäre. Von der Anmut seiner Bewegungen gefesselt, um seine Freiheit ihn beneidend, konnte ich ihm stundenlang zuschauen. Und diesem Adler – ich konnte es an der Höhe und der Entfernung sehen, aus der er immer niederstieß auf seine Beute – war neben seiner Bewegungsfähigkeit eine Sehkraft von unerreichter Schärfe gegeben.

      So eigneten also diesem Vogel Möglichkeiten, die Erde zu sehen und was auf ihr ist, wie sie keinem Menschen, nicht einmal einem Fliegen zuteilwerden. Nach Belieben konnte er über die höchsten Bergketten hingleiten, nach Belieben konnte er über den lieblichsten Tälern schweben. Nach Belieben konnte er sich auf irgendeinem Punkt niederlassen und die Dinge ganz in der Nähe betrachten. An einem einzigen Tag konnte dieser eine Adler die größten landschaftlichen Schönheiten der Welt geschaut haben – das höchste Gebirge, die abwechslungsreichsten Wälder, dicht bevölkerte Niederungen ebenso wie kahle und weite Ebenen, Völkerschaften, Tiere, Vögel, Insekten, Bäume, Blumen, alles von der mannigfaltigsten Art. An einem Tag und im gewohnten Verlauf seines Kreisens und Schwebens mochte er gesehen haben, was Menschen vom anderen Ende der Welt zu schauen kommen, befriedigt, wenn sie nur den hundertsten Teil dessen erblicken, was der Adler alle Tage sehen kann.

      Von seinem Berghorst im oberen Sikkim mochte er gesehen haben, wie im Morgenrot die Schneegipfel des Kantschindschanga aufglühten und in weiter Ferne der Mount Everest. Im Aufsteigen mochte der Adler dann über die volkreichen Ebenen Indiens hinausgeschaut haben und die Ströme erblicken, die wie Silberstraßen vom Himalaja hinabfließen, um weit in der Ferne sich mit dem Ganges zu vereinigen, der mächtigen Mutter. Dann mochte sein Auge über die endlosen Wälder hin schweifen, die die Ebene am Fuß der Berge, von Nepal bis Bhutan und Assam, wie in einen dichten, grünen Mantel hüllen und die von der Ebene aus sich über die Berghänge hin aufwärts nach der Höhe zu ausbreiten und bis dicht an die Grenze des ewigen Schnees reichen. Über diese ungeheuren Wälder mit ihrem Reichtum an Bäumen und anderen Pflanzen, an Tier- und Insektenleben von tropischer, gemäßigter und alpiner Art mochte der Adler schweben und dann, wenn er die Wasserscheide des Himalajas überflog, auf die baumlose, offene, wellige, fast unbewohnte Ebene von Tibet hinausschauen und in der Ferne den gewaltigen Brahmaputra erblicken, der nach einem Lauf rund um Bhutan herum den Himalaja scharf durchbricht und, sich nach Westen wendend, ebenfalls in den Ganges mündet.

      In der ganzen Welt ist kein wundervolleres Natur- und Landschaftsbild zu finden. Unser Adler könnte dies alles ohne sonderliche Anstrengung in einem einzigen Tag sehen, mit einer Schärfe und Deutlichkeit, wie es kein Mensch vermag. Aber wie scharf auch sein Auge sein und wie weit es reichen mag, in diesem ganzen so herrlichen Gebiet würde der Adler nicht eine einzige Schönheit erblicken. Weder im Sonnenaufgang noch in den schneebedeckten Bergen noch im üppigen Tropenwald, nicht in den Blumen, den Vögeln, den Schmetterlingen, nicht in den Menschen und Tieren, und auch nicht in den Sturzbächen und Abgründen würde der Adler irgendwelche Schönheit sehen. Für ihn wäre das Gebirge nichts als ein Umriss, die Wälder wären ein grüner Fleck, die Ströme weiße Striche und die Tiere nur eben Einzelheiten seiner Nahrung. Viel würde der Adler erblicken, aber die Schönheit würde er nicht schauen.

      Vielleicht werden wir verstehen, wie es kommt, dass der Adler bei so unbegrenzten Möglichkeiten keine Schönheit wahrnimmt, wenn wir ein Mücklein betrachten, das den Körper eines Menschen umschwirrt. Die Mücke steht ungefähr im selben Größenverhältnis zum menschlichen Körper wie der Adler zum Körper der Erde. Sie erblickt bei ihrem Schwirren unendliche Strecken des menschlichen Körpers; sie sieht die Gesichtszüge, die Nase, das Auge, den Mund; sie sieht den Rumpf und die Glieder und das Haupt. Aber selbst im schönsten aller Menschen würde sie keine Schönheit erkennen. Sie würde sie darum nicht erkennen, weil sie keine Seele hätte, um den seelischen Ausdruck zu deuten. Sie könnte die Züge des Menschen umschwirren, wenn gerade das Lächeln auf seinen Lippen, das Leuchten der Begeisterung in seinen Augen den höchsten Aufschwung der Seele kündete, aber die Mücke sähe in jenen Zügen keine Schönheit, weil sie die Seele nicht hätte, um sich in die Menschenseele einzufühlen und den Ausdruck auf dem Menschenantlitz zu erfassen. All die kleinen Schattierungen und Abstufungen, das Hell und Dunkel in den Zügen des Menschen wären für die Mücke völlig ohne Sinn, weil sie nichts von seiner Seele wüsste, von der die Gesichtszüge und ihr wechselvolles Spiel nach außen Kunde geben. Die Mücke wüsste nichts von der Wirklichkeit, die hinter der Erscheinung des Menschen verborgen liegt.

      Der Adler verhält sich gegenüber den charakteristischen Zügen der Natur genauso wie die Mücke gegenüber den Gesichtszügen des Menschen. Er sieht nur die leere äußere Erscheinung der Natur und er erkennt nicht den Sinn in ihren Zügen. Er hat keine Seele, die mit der ihren sich berühren und die so verstehen könnte, was in ihren Zügen zum Ausdruck kommt. Für ihn ist das zarte Hell und Dunkel, der leichte Ausdruckswechsel auf ihrem Antlitz ohne Sinn. Er sieht nur die Erscheinung und erkennt nichts von der Wirklichkeit dahinter. Er hat keine Seele, die sich mit der Naturseele zu vereinigen vermöchte. Darum sieht er keine Schönheit.

      Nun aber angenommen, es befände sich zufällig unter all den Mücken, die einen Menschen umschwirren, eine Mücke von ganz besonders feinfühligem Wesen, eine Mücke, die zwischen sich selbst und dem Menschen eine grundlegende Lebensübereinstimmung, eine Gleichartigkeit des Fühlens, des Gemütslebens und des Strebens zu erkennen vermöchte und die durch das Erkennen des Gleichartigen in ihnen beiden dem innersten Sinn und Wesen des Menschen nahezukommen imstande wäre: Dann wäre eine solche Mücke imstande, den wechselnden Ausdruck des Menschenantlitzes zu erfassen und beim Erfassen dieses Ausdrucks auch seine Schönheit zu sehen.

      Von einem Adler dürfen wir nicht erwarten, eine genügend empfindliche Seele zu haben, die es ihm ermöglichte, sich in die Seele der Natur hineinzufühlen, die Natur zu begreifen und ihre Schönheit zu schauen. Aber was vom Adler nicht zu erwarten ist, das dürfen wir vom Menschen erwarten. Wir können erwarten, dass ein Künstler erscheint, der für die Erde das sein wird, was die Künstlermücke für den Menschen war.

      Der Mensch vermag sich einigermaßen in die Seele der Natur einzufühlen. Etwas Verständnis hat er für die Natur. Er erkennt Schönheit, und sooft er sie in der Natur erblickt, hat er Berührung mit der Seele der Natur. Selbst Durchschnittsmenschen sehen einiges von der Schönheit der Natur


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