In der Sommerfrische. Anton Tschechow

In der Sommerfrische - Anton Tschechow


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bewusst zu eigen mache. –

      Während er auf- und abging und dachte, war Serjoscha mit den Beinen auf den Stuhl gestiegen und hatte zu zeichnen angefangen. Damit er die Geschäftspapiere nicht beschmiere und das Tintenfass nicht anrühre, lagen für ihn ein Stoß eigens für ihn zurechtgeschnittenes Papier und ein Blaustift bereit.

      »Die Köchin hackte heute Kraut und schnitt sich dabei in den Finger«, sagte er, ein Häuschen zeichnend und die Brauen bewegend. »Sie schrie dabei so, dass wir alle erschraken und in die Küche liefen. Wie dumm sie ist! Natalja Semjonowna sagt ihr, dass sie den Finger in kaltes Wasser stecken soll, aber sie nimmt ihn in den Mund und saugt … Wie kann man nur den schmutzigen Finger in den Mund nehmen! Papa, das ist doch unanständig!«

      Dann erzählte er, dass während des Mittagessens ein Leierkastenmann mit einem kleinen Mädchen in den Hof gekommen war und das Mädchen zu seiner Musik gesungen und getanzt hatte.

      – Er hat seine eigenen Gedankengänge! – sagte sich der Staatsanwalt. – In seinem kleinen Kopf ist eine eigene Welt, und er hat seine eigene Anschauung darüber, was wichtig und was unwichtig ist. Um seine Aufmerksamkeit und sein Bewusstsein zu fesseln, genügt es noch nicht, seine kindliche Sprache nachzuahmen; man muss auch auf seine Weise zu denken verstehen. Er verstünde mich sehr gut, wenn der Tabak mir wirklich leid täte, wenn ich mich gekränkt fühlte und weinte. Darum sind auch die Mütter als Erzieherinnen so unersetzlich, weil sie es verstehen, mit den Kindern zu fühlen, zu weinen, zu lachen … Mit der Logik und der Moral kann man aber nichts ausrichten. Was soll ich ihm noch sagen? Was? –

      Jewgenij Petrowitsch erschien es sonderbar und komisch, dass er, der gewiegte Jurist, der sich sein halbes Leben lang in allerlei Vorbeugungs- und Strafmaßregeln geübt hatte, auf einmal ratlos war und nicht wusste, was diesem Jungen zu sagen.

      »Hör’ mal, gib mir dein Ehrenwort, dass du nicht mehr rauchen wirst«, sagte er.

      »Mein Ehrenwort!«, sang Serjoscha, stark auf den Blaustift drückend und sich über die Zeichnung beugend. »Mein E – eh – renwo – ort! Ja! Ja!«

      – Weiß er denn auch, was das Ehrenwort bedeutet? – fragte sich Bykowskij. – Nein, ich bin ein schlechter Lehrer! Wenn jetzt irgendein Pädagoge oder Jurist in meinen Kopf hineinblickte, so würde er mich einen Waschlappen nennen und mir übermäßiges Klügeln vorwerfen … Aber in der Schule und vor Gericht werden alle diese verdammten Fragen viel einfacher gelöst als zu Hause: zu Hause hat man es mit Menschen zu tun, die man wahnsinnig liebt, die Liebe ist aber anspruchsvoll und macht die Sache kompliziert. Wäre dieser Junge nicht mein Sohn, sondern mein Schüler oder Angeklagter, so wäre ich nicht so feig und hielte meine Gedanken zusammen! … –

      Jewgenij Petrowitsch setzte sich wieder vor den Tisch und nahm eine der Zeichnungen Serjoschas in die Hand. Die Zeichnung stellte ein Haus mit schiefem Dach und mit Rauch dar, der aus den Schornsteinen im Zickzack wie ein Blitz bis an den Rand des Blattes ging; neben dem Hause stand ein Soldat mit Punkten statt Augen und einem Bajonett, das an die Zahl 4 erinnerte.

      »Der Mann kann doch nicht größer sein als das Haus«, sagte der Staatsanwalt. »Schau nur: dein Dach reicht dem Soldaten gerade bis an die Schulter.«

      Serjoscha kletterte ihm wieder auf den Schoß und rückte lange hin und her, bis er endlich eine bequeme Lage fand.

      »Nein, Papa!«, sagte er, nachdem er seine Zeichnung betrachtet. »Wenn du den Soldaten klein zeichnest, wird man seine Augen nicht sehen können.«

      Sollte er dem widersprechen? Der Staatsanwalt hatte aus täglichen Beobachtungen an seinem Sohne die Überzeugung gewonnen, dass die Kinder ebenso wie die Wilden ihre eigenen künstlerischen Ansichten und Forderungen haben, die dem Verständnis der Erwachsenen verschlossen sind. Bei aufmerksamer Beobachtung hätte Serjoscha unnormal erscheinen können. Er hielt es für möglich und vernünftig, die Menschen höher als die Häuser zu zeichnen und mit dem Stift außer den Gegenständen auch seine eigenen Empfindungen wiederzugeben. So stellte er die Töne eines Orchesters als sphärische Nebelflecke und das Pfeifen – als einen Spiralfaden dar. In seiner Vorstellung standen die Töne in engen Beziehungen zu den Formen und Farben, und so pflegte er das L immer gelb, das M rot, das A schwarz usw. anzumalen.

      Serjoscha gab das Zeichnen auf, rückte noch einmal hin und her, fand eine bequeme Pose und widmete sich dem Barte seines Vaters, zuerst glättete er ihn sorgfältig, dann zerteilte er ihn und versuchte aus ihm einen Backenbart zu machen.

      »Jetzt siehst du dem Iwan Stepanowitsch ähnlich«, murmelte er: »und gleich wirst du unserm Portier ähnlich sehen. Papa, warum stehen die Portiers vor den Türen? Um die Diebe nicht hereinzulassen?«

      Der Staatsanwalt fühlte auf seinem Gesicht Serjoschas Atem, er berührte mit der Wange jeden Augenblick seine Haare, und es war ihm dabei so warm und weich ums Herz, als ruhte nicht nur seine Hand, sondern auch seine Seele auf Serjoschas Samtbluse. Er sah ihm in die großen dunklen Augen, und es war ihm, als blickten ihn aus diesen Augen auch seine Mutter und seine Frau an und alle, die er je geliebt hatte.

      – Nun geh hin und schlage ihn … – dachte er sich. – Denk’ dir für ihn eine Strafe aus! Nein, was bin ich für ein Erzieher! Früher waren die Menschen einfacher, sie grübelten weniger und lösten darum solche Fragen tapfer. Wir aber grübeln zu viel, die Logik hat uns vergiftet … Je intelligenter ein Mensch ist, je mehr er grübelt und ins Detail geht, um so unentschlossener und befangener ist er und umso ängstlicher macht er sich an die Sache. Und in der Tat, wenn man es so bedenkt, wie viel Mut und Selbstvertrauen muss man haben, um es zu unternehmen, einen Menschen zu belehren und zu richten oder ein dickes Buch zu schreiben … –

      Es schlug zehn.

      »Nun, Kind, es ist Zeit für dich«, sagte der Staatsanwalt. »Sag’ gute Nacht und geh’ zu Bett.«

      »Nein, Papa«, erwiderte Serjoscha mit einer Grimasse, »ich bleib’ noch ein wenig bei dir. Erzähl’ mir etwas! Erzähl’ mir ein Märchen.«

      »Gut, aber gleich nach dem Märchen gehst du zu Bett.«

      Jewgenij Petrowitsch pflegte Serjoscha an seinen freien Abenden Märchen zu erzählen. Wie die meisten vielbeschäftigten Menschen, hatte er kein einziges Gedicht im Kopf und kannte kein einziges Märchen, so dass er immer improvisieren musste. Gewöhnlich fing er ganz nach der Schablone an: »In einem gewissen Königreiche …« Und weiter häufte er allerlei harmlosen Unsinn an und wusste zu Beginn der Geschichte nie, wie die Mitte und der Schluss ausfallen würden. Er nahm die Bilder, Personen und Situationen aufs Geratewohl, und die Handlung und die Moral ergaben sich irgendwie ganz von selbst, ganz ohne Zutun des Erzählers. Serjoscha liebte solche Improvisationen, und der Staatsanwalt merkte, dass je anspruchsloser und einfacher die Handlung war, sie auf den Jungen einen umso stärkeren Eindruck machte.

      »Also hör’ zu«, begann er, die Augen zur Decke hebend. »In einem gewissen Königreiche lebte einmal ein alter, uralter König mit einem langen grauen Bart und … einem so langen Schnurrbart. Er lebte also in einem gläsernen Schlosse, das in der Sonne wie ein großes Stück Eis glänzte und funkelte. Das Schloss aber, mein Lieber, stand in einem riesengroßen Garten, und im Garten wuchsen, weißt du, Apfelsinen, Bergamottbirnen … Kirschen … blühten Tulpen, Rosen, Maiglöckchen und sangen bunte Vögel … Ja … An den Bäumen hingen gläserne Glöckchen, die im Winde so wunderbar tönten, dass es eine Wonne war, zuzuhören … Glas klingt nämlich viel sanfter und zarter als Metall … Nun, und was gab’s da noch? Im Garten sprangen Fontänen … Weißt du noch? du hast auf dem Lande bei Tante Sonja eine Fontäne gesehen? Also solche Fontänen sprangen im Garten des Königs, aber sie waren noch viel größer, und die Wasserstrahlen reichten bis zu den Wipfeln der höchsten Pappeln hinauf.«

      Jewgenij Petrowitsch dachte eine Weile nach und fuhr fort:

      »Der alte König hatte einen einzigen Sohn und Thronerben, einen ebenso kleinen Jungen wie du. Er war niemals unartig, ging immer früh zu Bett, rührte nichts auf dem Tische an und … und war überhaupt ein kluger Junge. Er hatte aber einen Fehler: – er rauchte …«

      Serjoscha hörte gespannt


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