Eine wie wir. Dana Mele

Eine wie wir - Dana Mele


Скачать книгу
Schnitt. Das ist Tais Notendurchschnitt.« Das weiß jeder. Die Durchschnittsnoten hängen in der Großen Halle aus, um uns zu motivieren Schrägstrich uns zu blamieren.

      »Verbrenn es lebendig Schritt für Schritt«, fährt Nola fort. Sie schaut mich an.

      »Verbrennen. Beleidigen. Tais Spezialgebiet. Die Linie zwischen witzig und verletzend wird verwischt.«

      »Wie unterscheidet sich eine Beleidigung von Spott?«

      »Bei der Spott-Zeile geht es um Sport. Verbrennen ist tödlich.«

      »Und dann ist da noch Scharapowas Skandal. Das klingt wie schlechtes Laientheater.«

      »Ernsthaft? Marija Scharapowa ist ein Tennis-Superstar. Vor ein paar Jahren gab es einen Riesenskandal, als sie wegen Dopings gesperrt wurde. Aber es ist kompliziert, weil das Mittel, das sie genommen hat, ein zugelassenes Medikament war.«

      »Wie auch immer, ist mir scheißegal. Mir sagt das nur, dass deine Freundin Tai es offenbar wie Scharapowa gemacht hat. Die Frage ist nur, woher Jessica das wusste.«

      »Also, falls das wahr ist, hätte sie sich nur in Tais E-Mail-Account hacken müssen, um alles zu erfahren, was Tai dort jemals erwähnt hat, richtig?«

      Tanze, als würde dich niemand sehen.

      Nola nickt. »Jess war eine solide Programmiererin. Diese Computertrainingsprogramme, die sie entwickelt hat, waren legal.«

      »Aber ich glaube nicht, dass Tai so etwas tun würde. Eine wie wir nimmt keine Drogen. Das wäre automatisch ein Schulverweis.«

      Nola schenkt mir ein leicht verächtliches Lächeln. »Eine wie ihr?«

      Ich spüre, wie meine Wangen warm werden. »Tai könnte eines Tages Profi werden. Meine Freundinnen und ich haben eine Menge zu verlieren.«

      »Wie trostlos, immer etwas darstellen zu müssen«, sagt Nola.

      Ich denke an meinen Bruder. Nachdem er gestorben war, konzentrierten sich die Zeitungsartikel auf seine sportlichen Leistungen, aber sie gingen nicht darauf ein, was für ein Mensch er war, im Guten wie im Schlechten. Megans Tod wurde ganz anders behandelt. Sie war keine Star-Athletin oder Schülerin an einer renommierten Privatschule. Es gab ein paar Artikel, aber darin stand nichts über ihre Leistungen, ihre Hoffnungen und Träume, nichts, was sie besonders machte. Nur, was ihr passiert war.

      »Wir haben alle viel zu verlieren«, sage ich. »Die Bates ist wie eine goldene Eintrittskarte. So was wirft man nicht einfach weg.«

      Draußen geht langsam die Sonne unter. Rosa- und orangefarbenes Licht fällt durch das Dachfenster auf Nolas blasses Gesicht und lässt ihre Augen leuchten. »Warum hat Jessica das dann getan?«

      4

      Bevor ich mich auf die Suche nach Tai mache, gehe ich zu Bries Zimmer, um ihr das Gatsby-Kostüm zurückzugeben. Ich lausche kurz auf Anzeichen, ob sie beschäftigt ist, und höre ein gedämpftes Kichern. Justine ist bei ihr. Na toll. Ich streiche den feinen Seidenstoff glatt und lasse das Kleid auf dem polierten Holzfußboden neben ihrer Tür liegen. Dann gehe ich zur Treppe. Ich hasse es, die berüchtigte Ausborgerin zu sein (und gelegentliche Diebin), die auf Freundinnen, Bekannte und sogar beliebige Schülerinnen angewiesen ist, die mir während der Stunden ohne Schuluniform Klamotten zur Verfügung stellen. Aber es geht nicht anders.

      Das Gatsby-Kostüm war eins der außergewöhnlichsten Kleider, die ich jemals getragen habe. Unter dem Stoff fühlte sich meine Haut wie elektrisiert an. Als Daisy Buchanan wollte ich aufregend wirken. Geschmeidig und sexy und ein bisschen gefährlich. Ich bin traurig, dass ich es Brie zurückgeben muss, aber man kann nicht einfach »vergessen«, so ein auffälliges Teil zurückzugeben.

      Als ich nach draußen komme, blutet die Sonne über dem See, eine Blüte aus feurigem Orange und Rot zwischen den schwarzen knotigen Ästen, sie erweckt den Eindruck, der Frühherbst sei zurück. Ich gehe über den Innenhof zum Sportbereich, als die Kirchturmglocke eine Melodie läutet, die ich nicht kenne. Ich drehe mich um und starre auf die Silhouette der Schulgebäude. Ein atemberaubender Anblick bei Sonnenuntergang. Durch die wunderschöne gotische Architektur, die spindeldürren Türme und malerischen elisabethanischen Landhäuser wirkt der Campus wie eine Mischung aus Elite-Uni und Hogwarts.

      Tai trainiert im schwindenden Licht allein auf einem der Tennisplätze. Die Schule hat auch Tennisplätze in der Halle, aber Tai trainiert lieber bei jedem Wetter draußen, was nicht an allen Schulen geht. Sie ist perfekt in Form, so wie sie den Ball elegant annimmt, schlägt oder schmettert. Meine Brustmuskeln entspannen sich, als ich mich dem Platz nähere, und ich spüre, wie sich auch meine Schultern reflexartig senken. Tai hat keinen Grund zu betrügen. Sie ist allen anderen aus ihrem Team so weit voraus, dass es immer fast peinlich ist, ihnen beim Training zuzusehen. Mich verlässt erneut der Mut. Warum ist sie so gut?

      Ich werfe die Hände gegen den Maschendrahtzaun und heule wie ein Zombie und sie wirbelt herum und schleudert ihren Tennisschläger nach mir.

      »Was soll das, Kay? Ich dachte schon, du bist dieses Mädchen aus dem See.« Sie öffnet ihren Pferdeschwanz, schüttelt ihr feuchtes Haar aus und kämmt es mit den Fingern durch. Sie trägt ein makellos weißes Tennisoutfit, das mit dem charakteristischen Bates-Rot abgesetzt ist.

      Ihre Bemerkung wischt mir das Grinsen aus dem Gesicht. »Zu früh gefreut.«

      »Schleich dich nicht noch mal so an.« Sie holt sich ihren Schläger und sucht ihn nach Kratzern ab.

      »Lust auf Abendessen?«

      Sie verzieht das Gesicht. »Alle heulen und tun ganz melodramatisch, als wäre ihre Mom gestorben.«

      Typisch Tai. Ihre Mom starb, als Tai in der Neunten war, aber sie übergeht diese Tatsache, ohne eine Miene zu verziehen. Und sie wäre stinksauer, wenn ich auch nur das geringste Mitgefühl zeigen würde.

      Ich knuffe sie am Arm. »Es ist jemand gestorben.«

      »Aber doch niemand Wichtiges.«

      »Ernsthaft, Tai?«

      Ihre Lippen verziehen sich zu einer scharfen, asymmetrischen V-Form. Tais Haut ist so straff, dass ihre Haare immer streng nach hinten gekämmt aussehen, auch wenn sie offen um ihr Gesicht fallen. Sie hat eine spitze Nase, ein spitzes Kinn und so helle Wimpern und Augenbrauen, dass sie ohne Make-up so gut wie unsichtbar sind.

      »Ich meine es ernst. Ihre Freunde sollten traurig sein. Aber ich erinnere mich an sie. Sie hatte keine Freundinnen an der Bates. Sie war aus der Stadt.«

      »Also trauern wir nicht, weil sie nicht reich war?«

      Tai verdreht die Augen. »Das habe ich nicht gesagt. Jessica Lane war eine Diebin.«

      Ich lache laut auf. »In allen Artikeln, die ich gelesen habe, steht, dass sie Mutter Teresa war.«

      »Tja, das war sie nicht. In unserem ersten Jahr wohnten wir auf demselben Flur und meine Mutter hatte mir diese wirklich wunderschöne Schachtel Designerseife aus der Provence geschickt.«

      »Jessica hat deine Seife geklaut?«

      Sie grinst verlegen, aber ich sehe, dass sie in Wirklichkeit ziemlich aufgewühlt ist. Sie erwähnt ihre Mutter nicht oft.

      »Ich kann es nicht beweisen. Aber die Seife war weg und Jessica hatte ihren Duft an sich. Ich habe meine Mutter danach nicht wiedergesehen oder noch einmal mit ihr gesprochen, also war die Seife wichtig für mich.«

      Als wir uns dem Innenhof und den Wohnheimen nähern, hake ich mich bei ihr unter. »Okay, sie war eine Diebin.«

      Sie schweigt für einen Moment. »Also habe ich ihre Festplatte geklaut.«

      »Wieso?«

      »Ich habe sie zurückgegeben. Aber erst nachdem unsere Aufsätze fällig waren.« Sie seufzt. »Das ist so eine Sache, die einen wurmt, wenn jemand gestorben ist. Man erinnert sich an Kleinigkeiten, mit denen man der Person unrecht getan hat. Auch wenn sie es verdient hatte.«


Скачать книгу