Transformativer Realismus. Marc Saxer
aber können die Staaten ihre Finanzen konsolidieren? Wer zahlt die astronomischen Kosten der Rettungsschirme? Werden die Multimilliardäre, die kräftig von der Krise profitiert haben, mit einer Vermögenssteuer in die Verantwortung genommen? Konsolidieren die Staaten ihre Finanzen über weitere Anleihekäufe der Zentralbanken? Oder werden die Kosten wieder über harte Sparprogramme der Bevölkerung abverlangt? Mit anderen Worten: Wer zahlt die Zeche für die Krisen?
Wenn es nach dem Willen der Ordoliberalen geht, sollen die Staatsschulden wieder über Austerität abgetragen werden – dieses Mal auch in Deutschland, das bisher im Gegensatz zu Großbritannien oder Südeuropa von harten Sparprogrammen verschont geblieben ist. Statt mit Investitionen die am Boden liegende Wirtschaft aufzupäppeln, soll der Staat also sparen. Italien oder Griechenland leiden noch immer unter den Folgen der Austeritätsprogramme, die dem Wirtschaftskreislauf die dringend benötigte Nachfrage entziehen. Springt das Wachstum nicht wieder an, hat das zudem den perversen Effekt, dass die Schuldenquote trotz der harten Sparprogramme immer weiter ansteigt. Im eisernen Käfig der Austerität können sich die Volkswirtschaften Südeuropas nicht erholen. Mit ihrer Dauerkrise gefährden sie die gesamte Eurozone.
Gesamtwirtschaftlich ist das im Amerikanischen als starving the beast bekannte Aushungern des Wohlfahrtstaates also fatal. Der von einer Rezession geschwächten Wirtschaft Kaufkraft zu entziehen macht in etwa so viel Sinn wie der mittelalterliche Aderlass schwerkranker Patienten. Heute weiß die moderne Medizin, dass diese Rosskuren viel schlimmer waren als die Krankheit, die sie zu heilen versprachen. Unter ordoliberalen Volkswirten setzt sich diese Erkenntnis aber erst langsam durch.
Dabei haben die ordoliberalen Gewissheiten ordentlich Schiffbruch erlitten. Der allwissende Markt musste bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts von den verachteten Staaten gerettet werden. Die Politik der einseitigen Entlastung der Angebotsseite hat die Produktivität nicht wie erhofft steigern können. Im Gegenteil, die ordoliberalen Zauberlehrlinge haben auch noch eine Nachfragekrise heraufbeschworen.
Auch der neoklassische Glaube an den freien Markt hat sich als Chimäre erwiesen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gezeigt, dass sich Märkte nicht auf ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, Kapital und Arbeit einpendeln, weil zwischen den Marktteilnehmern riesige Macht- und Informationsunterschiede bestehen. Entgegen der Annahmen der Neoklassiker hat die übergroße Mehrheit der Marktteilnehmer keine Wahl, ob sie ihre Arbeitskraft verkaufen, wo sie Steuern zahlen und was sie konsumieren. Andere Marktteilnehmer sind dagegen so mächtig, dass sie Regierungen erpressen, Konkurrenten ausschalten und den Marktzugang versperren können. Die stärkeren Platzhirsche können das »freie Spiel der Marktkräfte« also jederzeit manipulieren oder gleich ganz aussetzen.
Die Monetaristen wiederum können nicht erklären, warum die befürchtete Inflation bislang ausbleibt, obwohl die Geldmenge seit Jahren aufgebläht wird. Ganz im Gegenteil zeigt sich, dass die lockere Geldpolitik der Zentralbanken nicht ausreicht, um die deflationären Tendenzen in den Griff zu bekommen, die wie ein Damoklesschwert über den westlichen Volkswirtschaften schweben. Die gigantischen Konjunkturpakete verschaffen den Realwirtschaften zwar kurzfristig eine Atempause. Doch so schnell wie der Hahn aufgedreht wurde, wird er meist nach dem Ende des Notstandes auch wieder zugedreht. Während Europas Dauermisere den Beweis erbringt, dass wirtschaftliche Erholung unter dem Diktat der Austerität nicht möglich ist, zeigt die jahrzehntelange Stagnation in Japan, dass Nullzinsen und Konjunkturprogramme bestenfalls die Deflation in Schach halten können, aber ohne weitere Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Volkswirtschaft aus der Dauerkrise zu befreien.
Auch die neoliberale Ideologie, also der Vorrang der Marktinteressen über alle gesellschaftlichen Belange, ist entzaubert. Das neoliberale Versprechen, vom Wohlstandskuchen der Reichen werde für alle etwas abfallen (trickle down), ist nie in Erfüllung gegangen. Im Gegenteil: Die Unterdrückung der Löhne, die Steuergeschenke an die Reichen, das Zusammenstreichen der Sozialtransfers – all das vertieft die Nachfragekrise weiter.
Quer durch die politischen Lager wachsen die Zweifel, ob es wirklich so klug war, die Bereitstellung öffentlicher Güter zu privatisieren. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, hält den Neoliberalismus für gescheitert und fordert einen Neuanfang, der den Kapitalismus in ein von einem starken Staat garantiertes System von Regeln einbettet (Great Reset)18. Der französische Präsident verspricht, die Privatisierungen zurückzudrehen. Immer offener flirten selbst Mainstream-Ökonomen mit der modernen Geldtheorie (Modern Monetary Theory)19, die für Staaten mit souveräner Währung wesentlich höhere Schuldenstände zur Finanzierung öffentlicher Investitionen für vertretbar hält. Die Angst vor den Staatsschulden beginnt sich zu verflüchtigen.
Ist das Zeitalter der Austerität wirklich vorbei? Denjenigen, die nun das Ende des Neoliberalismus verkünden, sollte die Finanzkrise von 2008 als Warnung dienen. Auch damals wurden Rettungsschirme aufgespannt und die Wirtschaft mit gigantischen Konjunkturpaketen stimuliert. Die Konsolidierung der von diesen Mammutaufgaben zerrütteten Staatsfinanzen wurde aber nicht den mit dem Geld der Steuerzahler geretteten Banken in Rechnung gestellt, sondern über Austeritätsprogramme der Bevölkerungsmehrheit aufgebürdet, vor allem den Transferempfängern staatlicher Leistungen im unteren Drittel der Gesellschaft.
Mit anderen Worten, die Verluste wurden sozialisiert und die Gewinne privatisiert. Im Ergebnis wuchs die soziale Ungleichheit auf historische Höchststände, während die Konzentration von Macht und Ressourcen an der Spitze der Gesellschaft immer weiter zunimmt. Linke Theoretiker wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben oder die kanadische Aktivistin Naomi Klein sehen daher in der Politik des Ausnahmezustands keineswegs unbeabsichtigte Unfälle, sondern eine besonders perfide Art, den Katastrophenkapitalismus zu regieren.
Warum sind den Reichen und Mächtigen ausgeglichene Haushalte überhaupt wichtiger als nachhaltiges Wachstum und Vollbeschäftigung? Welches politökonomische Ziel steht hinter Steuerkürzungen und Schuldenbremse? Wer profitiert von dem Dogma, dass sich der demokratische Staat nicht in den Markt einmischen dürfe? Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind die Großbanken und Großkonzerne, die nun ohne lästige Gemeinwohlbelange über die Geld-, Steuer- oder Handelspolitik entscheiden können. Ein Staat ohne nachhaltige Einkommensbasis ist abhängig von seinen Kreditgebern. Ein vom Finanzkapital abhängiger Staat kommt nicht auf die dumme Idee, die Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle zu stellen. Stattdessen wird er Staatseigentum privatisieren, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Geschäftsbanken können ungestört weiter Geld schöpfen. Investmenthäuser mit diesem billigen Geld spekulieren. Explodierende Vermögenswerte machen die Superreichen noch reicher. Vor allem aber stärkt der Deflationsdruck die Gläubiger, darunter viele Banken, auf Kosten der Schuldner, in der Mehrheit Unternehmen und Haushalte.
Würde der Fiskus dagegen die Nachfrage ankurbeln, und damit den Zentralbanken dabei helfen, ihr Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen, würden sich die Kräfteverhältnisse in der politischen Ökonomie verschieben. Die Aussicht auf steigende Preise motiviert die Konsumenten, lieber heute zu konsumieren, als auf morgen zu warten. Die Aussicht auf Profite motiviert die Unternehmen, wieder zu investieren. Und eine angemessene Inflationsrate erleichtert es Unternehmen und Haushalten, ihre Kredite zurückzuzahlen. Springt die Konjunktur endlich an, können die Zentralbanken moderat die Zinsen erhöhen und so langsam die Schwemme billigen Geldes austrocknen. Unternehmer, Sparer, Mieter und Konsumenten würden profitieren. Die Verlierer wären die Finanzmarktakteure. Mit anderen Worten: Die »Schwarze Null« ist ein Konjunkturprogramm für die 1 Prozent auf Kosten der 99 Prozent.
Großbanken und Staaten sind Wettbewerber bei der Versorgung der Realwirtschaft mit Geld und Kredit. Halten harte Haushaltsregeln die Staaten davon ab, zu investieren, werden die Banken zur einzigen Quelle von Geld und Kredit. Wie groß die Machtposition ist, die aus dieser Monopolstellung erwächst, haben wir in der letzten Finanzkrise erlebt. Die Banken waren vermeintlich too big to fail, konnten also die Staaten erpressen, sie zu »retten«. In der Verteilungsfrage, wer die Kosten der gigantischen Rettungspakete zu tragen hatte, setzte sich wieder das Großkapital durch: Die Gewinne blieben bei den Kapitaleignern, die Kosten wurden an die Bevölkerung durchgereicht.
Sind die Großbanken und Großkonzerne so mächtig, dass sie das allein durchsetzen konnten? Nein, vom Status quo profitieren auch