Transformativer Realismus. Marc Saxer
Logistik alleine löst aber nicht das Grundproblem der schwächelnden Nachfrage. Solange die Konsumenten unterm Strich nicht mehr konsumieren, bleibt die Digitalisierung ein Nullsummenspiel: Die fixeren Unternehmen jagen den langsameren Marktanteile ab, doch die Volkswirtschaft als Ganzes wächst nicht.
Wächst die Produktivität nicht, stagnieren bei gleichbleibenden Löhnen die Profite der Unternehmen. Steigen die Löhne nicht, schwächelt die Kaufkraft der Konsumenten. Ohne Konsumnachfrage haben die Unternehmen wenig Anreize, zu investieren. Ganz im Gegenteil: Sie werden versuchen, ihre Preise zu senken, indem sie die Lohnkosten drücken. Willkommen in der Zombiewelt stagnierender Löhne, nachlassender Kaufkraft, schwindsüchtiger Investitionsanreize, schwachen Wachstums, sozialer Verteilungskonflikte, wachsender Ungleichheit, sozialer Abstiegsängste und populistischer Revolten.
In dieser Zombiewelt gibt es natürlich nach wie vor technische Innovationen. Die jüngsten Errungenschaften im Bereich der Künstlichen Intelligenz, bei Supercomputern oder in der Nanotechnologie zeugen von dieser Innovationskraft. Doch abseits dieser innovativen Nischen ist die politische Ökonomie aller Disruptionsrhetorik zum Trotz erstaunlich konservativ. Die Gesellschaft als Ganzes setzt eher auf die Bewahrung des Bestehenden als auf kreative Zerstörung, um Neues zu schaffen.
Warum ist das so? Eingezwängt zwischen stagnierenden Reallöhnen und explodierenden Lebenshaltungskosten kämpft die Mittelschicht aus unteren, mittleren und gehobenen Angestellten, Facharbeitern, Bauern, kleineren Selbstständigen und Beamten ums Überleben. Mit dem Rücken an der Wand widersetzt sich die Mittelklasse jeder weiteren Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume, seien es Steuern zur Finanzierung öffentlicher Güter, seien es Sozialabgaben zur Sicherung der sozial Schwächeren. Aus den Mittelschichten rekrutiert sich die überwältigende Mehrheit der Wähler. Will die Mittelschicht weniger Staat, wollen es auch die Parteien.
Konsumieren Mittelschicht und Staat weniger, sinkt der Anreiz für Unternehmen, zu investieren. Bleiben infolgedessen neue Beschäftigungsmöglichkeiten aus, setzt die Politik alles daran, wenigstens das Bestehende zu retten. Niedrigzinsen und staatliche Rettungspakete unterlaufen langfristig jedoch die gesunde Selbstkorrektur des Marktes. Damit sind nicht Ausnahmesituationen gemeint, die nichts mit dem normalen Marktgeschehen zu tun haben. In der Coronakrise sind beispielsweise auch kerngesunde Unternehmen unverschuldet in eine Schieflage geraten; in solchen Fällen ist es richtig, gesunde Industrien mit Tausenden von Arbeitsplätzen zu retten. Problematisch wird es, wenn der Staat Unternehmen weiter durchschleppt, deren Geschäftsmodell sich schon lange vor der Krise überlebt hatte. Unfähig, sich aus dem Morast ihrer Schulden zu befreien, schaffen diese Untoten nichts Neues mehr. Statt die knappe Kaufkraft für innovative Anbieter freizugeben, überleben unprofitable Unternehmen am Tropf der Staatshilfen.
Das billige Geld hält Zombiebanken, Zombieunternehmen, ja ganze Zombievolkswirtschaften künstlich am Leben6. Deutsche Banken, chinesische Staatsunternehmen, italienische Fluggesellschaften, bankrotte Euroländer werden durch immer neue Finanzspritzen »gerettet«. Auch deswegen sind die Volkswirtschaften in ihrer Breite weniger innovativ als die digitale Avantgarde.
Und doch dürfen die Zombies nicht sterben. Sie müssen sich weiterschleppen, um dem lebensfähigen Teil der Ökonomie Zeit zu kaufen, in einen neuen Wachstumszyklus einzutreten. Darauf warten aber etwa die Japaner seit Jahrzehnten. Der Soziologe Wolfgang Streeck argumentiert sogar, dass alle entwickelten Volkswirtschaften durch künstlich geschaffene Nachfrage über vier Jahrzehnte am Leben erhalten wurden. Die Inflation der 1970er-Jahre, die öffentliche Verschuldung der 1980er-Jahre, die private Verschuldung der 1990er-Jahre und die Bondskäufe der Zentralbanken (quantitative easing) der 2000er-Jahre sind demnach allesamt Versuche, zukünftige Ressourcen für den gegenwärtigen Konsum verfügbar zu machen.
In diesem Klima aus abstiegsgefährdeten Mittelschichten, bankrotten Kommunen, klammen Staaten und übervorsichtigen Unternehmen finden sich keine gesellschaftlichen Mehrheiten für den großen Befreiungsschlag. Wo Disruptionen technisch möglich wären, bleiben sie politisch im Dickicht der Interessen stecken.
Die Energiewende ist festgefahren
Und so ergeht es auch einem weiteren wichtigen Treiber der Produktivitätsrevolution: der Energiewende.
Technologische Innovationen waren keineswegs die einzigen Triebkräfte der historischen Produktivitätssprünge. Mindestens genauso wichtig waren neue Energieträger, zunächst Kohle, dann Öl und Gas. Der Menschheit ist es gelungen, die seit Millionen von Jahren unter der Erde schlummernden Energiequellen für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Über ein Jahrhundert lang waren es die fossilen Brennstoffe, die sprichwörtlich jedes Rädchen der Weltwirtschaft am Laufen gehalten haben. Der Zugang zu diesen Energieträgern, allen voran dem Öl, war so wichtig, dass darum Kriege geführt wurden. Dieses fossile Zeitalter geht nun zu Ende. Dafür gibt es ökologische und ökonomische Gründe.
Die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas heizt die Erderwärmung an. Steigt die globale Mitteltemperatur um mehr als 2° Celsius über den vorindustriellen Wert, nehmen Wetterextreme wie Stürme, Dürren oder Überschwemmungen ein kaum noch zu bewältigendes Ausmaß an. Steigt der Meeresspiegel an, werden Hunderte Millionen Menschen aus Küstengebieten und von Inselstaaten vertrieben. Städte wie Venedig, New York oder Bangkok drohen im Meer zu versinken. Bereits heute ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser in vielen Ländern gefährdet. Kollabieren die Ökosysteme der Ozeane, fällt nicht nur der größte Speicher für überschüssige Wärme und Kohlenstoffe aus, sondern auch der wichtigste Produzent von Sauerstoff als Basis allen Lebens. Setzt sich das Insektensterben fort, steht die Versorgung mit Nahrungsmitteln auf dem Spiel. Die Zerstörung der Artenvielfalt bedroht auch das Überleben des Menschen auf diesem Planeten.
Obwohl diese Bedrohungslage jahrzehntelang bekannt war, ist es einer Allianz aus Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft und ihren Verbündeten in der Politik gelungen, politische Konsequenzen aus den wissenschaftlich gesicherten Einsichten zu verhindern. Aber seit einigen Jahren bröckelt dieser Schutzwall. Wichtige Akteure des Finanzkapitalismus wie die Versicherungsindustrie scheren aus der fossilen Allianz aus, weil die prognostizierten Schäden der durch den Klimawandel ausgelösten Naturkatastrophen ihr Geschäftsmodell bedrohen. Zugleich erreichen die erneuerbaren Energien Sonne, Wind und Wasser einen Grad technischer Reife, die ihren massenhaften Einsatz möglich macht. In vielen Ländern ist die Produktion von Elektrizität aus erneuerbaren Energien bereits heute günstiger als die fossile Alternative7. Immer mehr Investoren schichten daher ihre Portfolios von fossilen zu erneuerbaren Werten um. Der Einbruch der Nachfrage nach fossilen Brennstoffen in der Coronakrise hat diese beiden Trends noch einmal beschleunigt8. In Deutschland ist die Zahl der Arbeitsplätze in der erneuerbaren Energiebranche mittlerweile höher als in den fossilen Branchen. Damit wechseln auch immer mehr politische Akteure das Lager. Nicht zuletzt spekulieren die auf Energieimporte angewiesenen Staaten darauf, sich aus ihrer Abhängigkeit von geopolitischen Konkurrenten wie Russland, Iran oder Saudi-Arabien befreien zu können. Allen voran China ist fest entschlossen, die Märkte der grünen Zukunftstechnologien zu dominieren.
Diese politischen Verschiebungen haben nach Jahren des Stillstands zum Durchbruch bei den globalen Verhandlungen über die Begrenzung der Erderwärmung geführt. Im Pariser Klimaabkommen verpflichteten sich alle 197 Vertragsparteien erstmalig verbindlich dazu, ihre Emissionen zu reduzieren. Diese internationalen Verpflichtungen werden nun, von manchen energischer als von anderen, in nationales Recht überführt. Viele Staaten haben damit begonnen, ihre Investitionen, Subventionen und Regularien neu auszurichten. Langsam aber stetig werden die Technologien und Infrastrukturen ausgebaut, um Mobilität, Wohnungssektor und Industrie klimaneutral zu organisieren.
Auf der anderen Seite wird die Erschließung fossiler Brennstoffe immer teurer. Die leicht auszubeutenden Vorräte in geringen Tiefen erschöpfen sich. Neue Technologien wie das Fracking-Verfahren erlauben es zwar, auch bisher ungenutzte Quellen wie Schiefergas anzuzapfen. Die hohen Kosten machen diese Unternehmen aber in einem Umfeld niedriger Preise unrentabel. Und tatsächlich kommt es auf dem Ölmarkt wiederholt zu Preiskämpfen um die verbleibenden Marktanteile.
Die englische Zentralbank warnte bereits im Jahr 2015 vor einer Carbon Bubble, also einer Blase im fossilen Energiesektor. Steigende Produktionskosten, strengere regulatorische Auflagen, wachsende