Brüder und Schwestern. Karl König

Brüder und Schwestern - Karl König


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Ein Blick in die Bibliographie zeigt, dass er in Hunderten von Aufsätzen seine umfassenden Interessen unter Beweis stellte. Die Themen reichen von seinem ursprünglichen Fachgebiet, der Embryologie, bis hin zu Geschichte, biographischen Studien, Landwirtschaft und Zoologie. Er schrieb als Arzt, als Lehrer, als Forscher und Wissenschaftler. Sein Schrifttum umfasst Texte mit künstlerischem Ausdruck, beinhaltet Lyrik und Dramatik, Mischungen aus Wissenschaft und Poesie, ein Stil, der ihm näher lag als die streng wissenschaftlich begriffliche Ausformung von Erfahrung.

      Ich glaube, dass es gerade diese Fähigkeit war, die es ihm ermöglichte, nicht Wissenschaftler im reinsten und klassischen Sinne zu werden, sondern in jenem gedanklich und sprachlich lebendigen Bereich zu bleiben, der es ihm ermöglichte, alle Menschen zu erreichen und insbesondere im therapeutischen Umfeld Camphills eine Sprache zu sprechen, die auch die Gruppeneltern, die Therapeuten und die Lehrer verstehen konnten. Es war eine Sprache, die mit künstlerischem Sinn erfasst und verstanden werden wollte, und sie hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass König Wissenschaftler und Heilpädagoge sein konnte.

      (Müller-Wiedemann 2016, S. 431 f.).

      Und da sind vor allem seine Bücher, die ihm, neben den Gründungen von Einrichtungen und Dorfgemeinschaften, die Wertschätzung und Anerkennung breiter Kreise, weit über den anthroposophischen Raum hinaus, einbrachten. Zu den bekanntesten Werken gehören: Die ersten drei Jahre des Kindes (1957), Der Mongolismus – Erscheinungsbild und Herkunft (1959), verstreute Aufsätze, die posthum unter Geister unter dem Zeitgeist – Biographisches zur Phänomenologie des 19. Jahrhunderts als Buch herausgegeben wurden. Über die menschliche Seele erschien 1966, Brüder und Schwestern – Geburtenfolge als Schicksal bereits 1957/58 in Folgen, die jeweils in der internen Zeitschrift The Cresset veröffentlicht wurden, dann als Privatdruck in England und schließlich 1963 auch in den Vereinigten Staaten. Seit 1964 ist das Buch in Deutschland zu haben, zunächst im Ehrenfried Klotz Verlag, später dann bei Vandenhoeck & Ruprecht. Im Jahre 2008 erlebte es seine vierzehnte Auflage – ein immergrünes Pionierstück.

      III.

      Wie aus dem Geleitwort von Ehrenfried Klotz bzw. aus dem Brief Königs an ihn (siehe Anhang S. 200) hervorgeht, wurden in der deutschen Ausgabe kaum irgendwelche Änderungen vorgenommen, «… weil ich ja hoffe, in nicht allzu ferner Zeit ein ausführliches Buch über diese wichtigen Probleme zu schreiben». König plante bereits einige Kapitelüberschriften für das große, gültige Buch mit dem Arbeitstitel Menschenschicksal und Geschwisterreihe bzw. Söhne und Töchter (siehe S. 114). Aus alldem ist nichts mehr geworden. Der frühe Tod und vermutlich auch andere Umstände, die Fülle der Vorträge und die Gründungen am Bodensee, haben es verhindert. Ob das auch etwas zu tun hat mit dem im Jahr darauf veröffentlichten Buch von Walter Toman, der gemeinhin als der Erste gilt, der in Deutschland über Geschwisterforschung veröffentlichte, darüber lässt sich nur spekulieren. Davon soll später die Rede sein.

      Es kann davon ausgegangen werden, dass König 1957 begann, sich systematisch mit der Thematik von Brüder und Schwestern zu beschäftigen. In seinen unveröffentlichten Notizen heißt es dazu am 10. November:

      Suche fast vergeblich nach Literatur über den Einfluss der Geschwister aufeinander während der Kindheit. Aber die Fragebogen, die ich diesbezüglich unter den Mitarbeitern verteilt hatte, werden doch schrittweise ein sehr aufschlussreiches Material. Es zeigt, je mehr ich es zu lesen beginne, dass es doch grundlegende Charakterzüge für das erste, zweite, usw. Kind gibt. Das erste Kind erscheint mir nun immer mehr im Bild des Janus. Es hat ein Gesicht nach den Eltern, das andere nach den Geschwistern gerichtet, und ich erhoffe mir aus diesem Bild, noch mehr Aufklärung und Einsicht zu gewinnen.

      Und am 11. November:

      Im zweiten Teil versuche ich, die allgemeinen Charakteristika des ersten Kindes darzustellen. Bei der Beschreibung, wie es sich dem zweiten gegenüber verhält, eröffnet ein Wort mir einen völlig neuen Blick. Denn als ich schreibe, dass es seine Stellung ‹verteidigen› muss, bringt das Wort ‹defender› die ganze Welt des ersten Kindes mir nahe. Es muss bewahren und erhalten; es muss, auch wenn es nicht will, ein Vertreter und Verteidiger dessen sein, was Tradition ist.

      Es ist beeindruckend, wie König sich mit seinen materiell bescheidenen Möglichkeiten – keine universitäre Umgebung mit Assistenten und professoralen Spielräumen – dem Thema nähert. Belesen in Alfred Adlers Individualpsychologie, in Freuds und Jungs Schriften, im Studium von Biographien und Autobiographien, in der unmittelbar erreichbaren wissenschaftlichen Literatur, in dem, was die Schöpfungsgeschichte, die griechische Götterwelt, die Sagen und Märchen über Geschwister erzählen, im Einsatz empirischer Verfahren mittels Fragebögen und Statistiken, der eigenen beruflichen Erfahrung und der heilpädagogischen und ärztlichen Praxis – aus alldem besteht die Mischung für die Entstehung von Brüder und Schwestern. Der Prozess des Entstehens ist, trotz erster Veröffentlichung, nicht abgeschlossen, denn er ist ja die Vorarbeit für etwas Größeres. Die Vorbereitungen für Vorträge, wie den vom 11. April 1959 in Stuttgart oder am 6. November 1961 in Nürnberg (siehe Anhang), zeugen von der fortschreitenden Bewegung, die ihm das Thema abverlangt. König verbindet anthroposophisch geprägte Erkenntnisse mit aktuellen Forschungen, etwa die von Gerhard Wurzbacher, Ordinarius für Soziologie in Erlangen, über die Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens (1954). Er referiert die Ergebnisse und leitet daraus zeitgemäße Forderungen zum Umgang mit Kindern, verbunden mit der notwendigen Partnerschaft zwischen Mann und Frau, ab. Seine Forderung lautet, dass Eltern ihre Kinder als eigenständige Wesen erkennen müssen und sie nicht so werden zu lassen, wie man selbst es wünscht oder will, sondern wie es im Kind veranlagt ist – genau das sei von größter Notwendigkeit.

      Nach anthroposophischem Verständnis von Schicksal und Karma suchen sich Kinder bereits im Vorgeburtlichen ihre Eltern aus. Wir alle kommen entweder als einziges oder als erstes, zweites, drittes und so fort Kind auf die Welt. Damit sind Schicksalsfügungen verbunden, die sich vor uns auftun und uns, nach König, auch etwas über das Sinnhafte unserer Existenz enthüllen. Ganz im Sinne moderner Entwicklungspsychologie geht er davon aus, dass ein einzelnes oder ein erstes, ein zweites oder ein drittes Kind zu sein, Aufgaben mit sich bringt, die uns vom Anfang bis zum Ende des Lebens begleiten und die es zu bewältigen gilt. Für Königs Forschungen steht die Frage nach der Kontaktfähigkeit im Mittelpunkt, die die Stellung in der Geschwisterreihe mit sich bringt. Wie reagieren Kinder dadurch auf andere Menschen, auf Freundschaften, Mitmenschen, ihre Einbindung in Gruppen, ja, sogar auf die Wahl des Ehepartners (König 2013, S. 41 f.). Er erklärt die drei Formen der Geschwisterposition als Urbilder unseres sozialen Schicksals. Das Einzelkind sei ein Sonderfall und stehe für sich.

      Im bereits geschriebenen, aber letztlich, in Absprache mit dem Verleger Paul M. Allen, nicht abgedruckten Vorwort der amerikanischen Ausgabe Brothers and Sisters. A Study in Child Psychology (New York 1963), geht er sehr viel ausführlicher als in der Einleitung zur deutschen Ausgabe auf die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein (siehe Anhang, S. 183). In Königs System gibt es demnach bei den Kennedys drei erste Kinder, Joe, Kathleen und Bobby; dann folgen vier zweite Kinder: Jack, Eunice und Jean und Ted, die als Zwillinge nach König nur einen Rang in der Geburtenfolge einnehmen; zuletzt zwei dritte Kinder, Rosemary und Patricia. Dieses Beispiel ist für ihn, par excellence, ein Beleg, wie der Rang der Geburt die Züge eines jeden von uns prägt. König erhebt es zum «Joch dieses großen Gesetzes», das unsere Beziehung zu unserer Umgebung prägt. In der deutschen Einleitung ist von einem «Gesetz» nicht mehr die Rede, sondern der Autor relativiert seine Untersuchungen, dass all das, was er bislang darstellt, nur ein Anfang sei und deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben könne.

      IV.

      Festzuhalten ist, dass nicht Walter Toman, Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Erlangen, es war, der im deutschsprachigen Raum erstmals über Geschwisterforschung veröffentlichte, sondern Karl König ein Jahr vor ihm. To-man war bereits vor seiner Berufung nach Erlangen als Professor in amerikanische


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