Mami Staffel 13 – Familienroman. Lisa Simon
tat ihr gut, wieder zur Arbeit gehen zu können. Gleich am nächsten Tag stellte sie eine Ladendiebin, eine gut gekleidete Frau, die angeblich gar nicht wußte, wie die Silberohrringe, drei Paar, in ihre Tasche gekommen waren. Sie bot Julia sogar eine erhebliche »Bestechungssumme«, wenn diese die Polizei außen vorließe. Julia hatte jedoch strengste Anweisungen für solche Fälle. Ein einziges Mal hatte sie dagegen verstoßen und eine Frau laufen lassen, die daraufhin in einer anderen Filiale erwischt wurde. Bei ihr zu Hause fand man ein ganzes Warenlager gestohlener Gegenstände aus Warenhäusern und Boutiquen. Seitdem war Julia konsequent.
Trotzdem regte sie dieser Vorfall auf. Wie kam man dahin, solche Dinge zu tun? Was mußte im Leben dieser Frau schiefgelaufen sein? Sie glaubte von sich, daß ihr niemals so etwas passieren könnte, aber stimmte das? Sie würde nicht stehlen, aber vielleicht war es möglich, daß ihr Leben eines Tages so durcheinandergeriete, daß sie beispielsweise zur Flasche griff…
Sie schauderte bei dem Gedanken und wandte sich lieber wieder den Kassenabrechnungen zu.
Am Abend, kurz bevor sie Feierabend hatte, stand Torsten plötzlich vor ihr im Laden.
»Ich dachte, ich hole dich einfach mal zum Essen ab. Ich bin sicher, deine Mutter hat nichts dagegen, die Kinder noch zu versorgen. Wir müssen ja nicht lange wegbleiben.«
Julia zögerte. Sie freute sich darüber, daß Torsten ihr spontan eine Freude machen wollte. Aber Nele…
Ach was. So schlimm war es schließlich nicht, wenn sie erst um neun oder zehn käme. Ihre Mutter hatte dafür jedenfalls ganz gewiß Verständnis.
»Gut, das ist lieb von dir. Ich muß nur eben anrufen.«
»Schön. Ich hatte fast nicht zu hoffen gewagt, daß ich dich überreden kann.«
Auch für ihn konnte es nicht so leicht sein. Seine früheren Freundinnen waren sicher nicht so kompliziert gewesen. Julia lächelte ihm dankbar zu und ging nach hinten, ohne ihn aufzufordern, sie zu begleiten. Torsten schien das auch nicht zu erwarten. Er sah sich im Laden um.
»Mama? Macht es dir etwas aus, wenn die Kinder heute noch bei dir essen? Ich bin überraschend zum Essen eingeladen worden und würde sehr gern annehmen.«
»Von deinem neuen Freund?«
»Woher weißt du… ah, Nele…«
»Ja, sie hat sich bei mir beklagt, aber da kam sie natürlich an die Richtige. Ich habe ihr klipp und klar gesagt, daß ich es wunderbar finde, wenn du ein bißchen Spaß hast und daß es ihr Leben schließlich auch bereichert, wenn sie neue Menschen kennenlernt. Sie hat mich nur stumm und vorwurfsvoll angesehen. Vermutlich übt sie sich jetzt in der Rolle des unverstandenen Kindes. Aber sie weiß natürlich, daß wir sie alle lieben und nutzt das weidlich aus, dein schlechtes Gewissen zu sehen. Also amüsier dich, Kleines. Sollen sie hier schlafen?«
»Nein, nein. Ich hole sie spätestens um halb zehn. Wenn sie dann bettfertig sind…«
»So machen wir es. Viel Spaß.«
Julia überlegte, ob sie noch viel Spaß haben würde. Ihre Mutter meinte es herzensgut, aber sie konnte Nele auch viel besser widerstehen und regte sich seltener über Tränen auf. Vielleicht weil ihr Leben nicht immer leicht gewesen war und sie schon ganz andere Dinge hatte durchmachen müssen. Julia jedoch konnte sich den ganzen Abend nicht so ganz von dem Gedanken freimachen, daß Nele es wiederum als Verrat empfinden könnte. Julia war ein anderer Mensch wichtiger gewesen, als nach einem langen Tag ihre Kinder zu sehen…
»Julia? Ich glaube, ich sollte dich jetzt gehen lassen, oder? Sonst drehst du den Stiel des Glases noch ab…«, unterbrach Torsten ihre Gedanken.
Julia hatte gar nicht gemerkt, daß sie ihr Glas pausenlos drehte. Verlegen schob sie es zurück. Es war halb neun, kein Grund zur Eile.
»Nein. Ich möchte noch einen Nachtisch«, verkündete sie entschlossen.
*
»Ich möchte zu Papa. Ruf ihn an, und sag ihm, daß er mich abholen soll.«
Julia ließ fast die Puddingschüssel fallen. Sie hatte den Kindern Schokoladenpudding gekocht und den gerade aus dem Kühlschrank genommen, als ihre Tochter mit dieser Bitte kam.
»Warum siehst du mich so an? Ich kann ihn doch jederzeit sehen, hast du mal gesagt.«
Woher kam nur dieser Trotz in den Augen der Neunjährigen? Julia war sich keiner Schuld bewußt. Am Wochenende hatte sie sich intensiv um die Kinder gekümmert und nur zweimal mit Torsten telefoniert. Heute, am Sonntag, waren sie den ganzen Tag mit Christine und ihrer Familie zusammengewesen. Sie hatten gegrillt, im Garten herumgetobt und viel Spaß gehabt. Und jetzt dieses…
»Natürlich kannst du Papa sehen. Ich rufe ihn an.«
»Ich will aber nicht zu ihm, Mama«, warf Patrick ein, der unglücklich von seiner Mutter zu seiner Schwester blickte. Er spürte die Spannung, konnte damit aber nichts anfangen. Für ihn war die Welt noch einfacher. Er hatte sich auf den Pudding gefreut und war müde vom Spielen.
»Das mußt du ja nicht, mein Schatz. Willst du jetzt auch Pudding haben, Nele?«
Julia zwang sich, in dem Wunsch ihrer Tochter etwas ganz Normales zu sehen. Vielleicht war er ja auch entstanden, weil Nele heute den ganzen Tag ein glückliches Familienleben gesehen hatte.
»Ja.«
Nele wirkte nun seltsam zufrieden. Julia konnte nicht glauben, daß es damit zusammenhängen mochte, ihr die Laune verdorben zu haben. War Nele etwa berechnend? Den Abend vor ein paar Tagen, als sie mit Torsten essen gegangen war, hatten sie doch ohne Folgen abgehakt… Und doch, vielleicht stand das damit in Verbindung. Sie wußte einfach nicht, wie sie richtig reagieren sollte. Letztendlich konnte ihr auch keiner raten, denn niemand steckte in ihrer Haut und niemand kannte Nele so gut wie sie. Vor allem trug sie die Verantwortung allein.
»Wann rufst du Papa an?« wollte Nele eine Stunde später wissen, als Julia ihr einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank gab.
Die Kinder hatten gebadet und sollten jetzt schlafen. Patrick lag schon im Bett und wartete darauf, daß Julia ihm gute Nacht sagte.
»Das versuche ich nachher.«
»Vergiß es aber nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob er da ist.«
»Dann versuch es morgen noch einmal.«
»Ja, Nele. Ich werde ihm am besten sagen, daß er dann selbst mit dir sprechen soll, damit ihr etwas ausmachen könnt.«
Julia war nicht bereit, ein Nein ihres Exmannes an ihre Tochter weiterzugeben. Das mußte er schon selbst tun. Und sie fürchtete, daß es auf ein Nein hinauslaufen würde.
»Gut.«
Jetzt war Nele offenbar wirklich beruhigt. Sie schlüpfte in den Schlafanzug und kroch ins Bett. Nachdem sie die Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen hatte, gab Julia ihr einen Kuß.
»Schlaf gut, mein Schatz.«
»Mach ich. Du nachher auch.«
»Danke.«
Julia strich Nele noch einmal über das Haar und lächelte auf ihr großes Mädchen hinunter. Nele konnte so lieb und so eigensinnig sein, was Julia auch nicht schlimm fand. Nur eines wünschte sie sich wirklich nicht, einen kleinen Egoisten heranzuziehen, dem nur die eigenen Gefühle wichtig waren.
Patrick schlief schon fast. Er kuschelte sich an seine Mutter und legte ihr einen Arm um den Hals.
»Ich hab’ dich lieb, Mama.«
Ach, wie goldig er noch war… Er kannte keine Kritik an ihr, was sie tat und sagte, war Gesetz… Julia wußte, daß sich das mit der Zeit auch noch ändern würde. Aber jetzt genoß sie es.
»Ich hab’ dich auch ganz doll lieb, mein Patrick.«
Er grinste. Seit ein paar Tagen hatte er eine Zahnlücke, ein Zeichen für seine bevorstehende