Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie

Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie


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Gesicht Dr. Samis sehen, wie er müde und erschöpft, mit geröteten Augen und aufgedunsenem Gesicht auf sein Spiegelbild starrte, um seine Koteletten mit der Rasierklinge geradezuschneiden. Sie gab es aber auf, denn sie hatte keine Kraft mehr, dem stummen, turbulenten Kampf zwischen den lebenden und toten Bildern des Doktors in ihren Gedanken zu folgen. Aber die Ungeheuerlichkeit seines Todesbildes ging so weit, dass es sich unabhängig von ihrem Willen und ohne die Präsenz seines lebenden Kontrahenten in der Kampfarena alleine wie eine unbestreitbare Wirklichkeit vor ihr aufbaute: mit aufgeschlitztem Leib, aus dessen heraushängenden Innereien noch warmer Dampf in die Luft stieg, der die Szene matt und verschwommen erscheinen ließ. Aber trotzdem hätte Frau Sami, wenn sie den Mut dazu gehabt hätte, alle durch jenes brutale Gemetzel hervorgerufenen Verletzungen sehen und sie voneinander unterscheiden können. Denn das Bild, das wie ein Alptraum auf ihrer Erinnerung lag, war so überwältigend und stark, dass es die Realität völlig überlagerte. Sofort als ihr Blick auf die zerschnittene Leber, die geschundenen Darmzotten und die mit Blutklumpen gefüllten Löcher und den Doktor gefallen war, der die Innereien mühevoll wieder in seinen Bauch zu stopfen versuchte, hatte sie sich abgewandt und vor Erschütterung und Grauen unbewusst zu weinen angefangen. Vor Entsetzen und Elend hatte sie den Kopf gewiegt und sich gesagt: »Es sind nur Einbildungen … Es sind nur Einbildungen …«

      Sie glaubte so fest an die Unabänderlichkeit jenes grausamen Vorfalls, dass es ihr so vorkam, als hätte Gott ihr das sichere Schicksal ihres Mannes eingeben wollen. Verzweiflung ergriff ihr Herz, und im gleichen Moment, während sie in jener weißen, kalten Toilette am ganzen Körper zitterte, kam sie zu dem Schluss, dass ihr ohne den Doktor das Leben nichts wert sei. Sie flehte Gott an, auch ihr das Leben zu nehmen. Sie sehnte dies so inbrünstig herbei, dass sie später ihrer Freundin erzählte: »Wenn es mir nicht plötzlich eingefallen wäre, dass diese Drecksäcke mich des Mordes bezichtigen könnten, hätte ich mir im selben Augenblick das Leben genommen.«

      Ihre Vorsicht war nicht abwegig. Die staatlichen Behörden stellten zunächst den Mörder als einen Messerstecher vor, der eine persönliche Rechnung mit Dr. Sami begleichen wollte. Der Mord bekam aber plötzlich eine politische Färbung, und dies nicht, weil die Regierung ihre ursprüngliche Lüge nicht als Wahrheit verkaufen konnte, sondern weil sie ihren Misserfolg durch die Verleumdung anderer Gruppen ausgleichen wollte. Deshalb führten an ein und demselben Tag der Innenminister, der Staatsanwalt des Teheraner Gerichtshofes, der Vorsitzende des Informationsausschusses der Polizei und … und … und … unter verschiedenen Vorwänden Pressekonferenzen durch und gaben bekannt, dass nach den vorliegenden Beweisen politische Ambitionen den Hintergrund dieses Mordes bildeten. Ihre Anschuldigungen zielten auf die politischen Gruppen der »Konterrevolution«. Und wenn die Menschen sich hierbei in den kalten, glanzlosen herbstlichen Nächten unter dem traurigen Schein der Kerze zusammensetzten und leise über den Vorfall unterhielten, kamen sie zu Schlussfolgerungen, die – wenn auch dem Standpunkt der Regierung nicht unähnlich – sich jedoch grundlegend von diesem unterschieden. Deshalb wunderte es auch niemanden, als der Verantwortliche des Roten Halbmondes erklärte, dass der Mörder auch vor der Revolution abscheuliche Taten begangen habe und an die dreiundfünfzig Straftaten in seiner Akte registriert seien. Auch an der politischen Motivation des Mordes zweifelte niemand. Es ging nicht um die unterschiedliche Einschätzung der Persönlichkeit des Mörders oder der Motive für den Mord, sondern um die Umstände des Mordes selbst. Von dem Augenblick an, als Frau Sami in absoluter Verzweiflung die verdreckte Scheibe des kleinen Toilettenfensters in der Praxis zerbrach – nicht um den Empfehlungen des Mörders folgend, ihre Halsschlagader mit den scharfkantigen Scherben durchzuschneiden, sondern um damit ihr Geschrei bis zu den Passanten durchdringen zu lassen –, bis zu dem Zeitpunkt, als man den leblosen Körper Dr. Samis mit dem durchlöcherten Kopf in den Operationssaal schob, reagierte niemand auf die widersprüchlichen Verlautbarungen der Regierung. Obwohl die Experten auf den ersten Blick den Schatten des Todes sahen, der eilig hinter der Tragbahre herlief, fingen sie mit dem Nähen und Verbinden der tiefen und unheilbaren Wunden an, die selbst im Falle einer Genesung dem Doktor kaum Zeit zum Leben gelassen hätten. Während der Operation, die mehr als zehn Stunden dauerte, sagten sich die Chirurgen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln: »Die Sinnlosigkeit und das Scheitern unseres Unternehmens sind von vornherein abzusehen.«

      Während der ganzen Zeit hatten sich die Begleiter Dr. Samis und die in immer größerer Zahl herbeiströmenden Menschen dem stillen Bangen eines sinnlosen Wartens hingegeben, die dann in einem Zornausbruch endete. Genau in dem Augenblick, als die Regierung, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und deren Verdacht zu beseitigen, den Gesundheitsminister zum Besuch des im Koma liegenden Doktors schickte, brach dieser Zorn aus. Gerade als der Gesundheitsminister das Krankenhaus betrat, schoss ein kleiner schmächtiger Junge wie ein Pfeil aus der Tür. Plötzlich schrie eine Frau: »Wo läufst du denn hin, Kind? Es regnet doch, du wirst dich erkälten … Nimm doch den Schirm!«

      Ohne sich auch nur umzudrehen, schrie der Junge mit schriller Stimme:

      »Nein! Der Hadji hat gesagt, dass ich dem ‹Agha› so schnell wie möglich die Botschaft überbringen soll, dass die Regierung den Doktor umgebracht hat.«

      Der Junge wusste selbst nicht, dass er mit seinem Geschrei den unheilvollen Zauber jenes schweren Schweigens gebrochen hatte, das jahrelang auf ihrem leid- und kummervollen Leben lastete. Die Menschen, die auf einmal von diesem einfachen Vorfall überrascht wurden, atmeten zunächst tief auf und begriffen dann plötzlich, dass es entgegen allgemeiner Meinung gar nicht so schwer war, das Schweigen zu brechen. Deshalb überwanden sie die Hürden der Angst und Vorsicht, ließen ihrem lange aufgestauten Zorn freien Lauf und schrien hemmungslos: »Tod der Despotie … Freiheit, Freiheit … ist die Botschaft von Samis Blut.«

      Niemand bemerkte, wann und wie jene spontane Demonstration endete. Denn der Widerhall jener aufgebrachten Schreie war noch Wochen und Monate danach in den Ohren, in den Herzen, in der leeren Tiefe des Himmels und in den engen dunklen Gassen zu hören. Am Tag der Beisetzung von Dr. Samis Leichnam, der nach sechs aufeinanderfolgenden Operationen drei Tage lang wie ein wundes zerschnittenes Fleischstück auf dem Bett gelegen hatte, verwandelten sich diese kämpferischen Schreie in einen allgemeinen Donner. Obwohl es an jenem Tag kalt, regnerisch und bedeckt war und ab vier Uhr nachmittags die Stromversorgung der Stadt ausfiel, empfanden alle Menschen, die unter dem Vorwand der Teilnahme an der Beisetzungszeremonie die Straßen versperrten, Barrikaden errichteten und mit erschreckenden Stimmen ununterbrochen das herausbrüllten, was sie sieben Jahre lang hinuntergeschluckt hatten – »Freilassung der politischen Gefangenen« –, ihn als einen herrlichen, wunderschönen Tag. Ganz im Gegensatz zu den Revolutionswächtern, die jenen unruhigen Nachmittag mit Schlagen, Verhaften und Abführen der aufgebrachten Menschenmassen verbrachten und, bevor sie die Vernehmung mit Schlägen, Tritten und Schimpfworten begannen, sich auf die Holzbänke warfen und sagten: »Was für ein beschissener Tag …«

      Die Regierung war so sehr in ihrem überschäumenden Hass und ihrem Rachegefühl gefangen, dass sie überhaupt nicht an Heil oder Unheil dieses Tages dachte. Sie beschäftigte nur der Gedanke, wie sie jenen aufgewühlten Tag auslöschen konnte. Deshalb beschloss sie, von vorn herein eine mögliche Wiederholung zu verhindern. Als der Regierungschef seine Botschaft an die Angehörigen des den Märtyrertod gestorbenen Dr. Samis – den er »der Getötete« nannte – schickte und bemerkte, dass es besser wäre, die für Freitag geplante Gedächtnisveranstaltung in der Hosseinieh-Erschad-Moschee abzusagen, hielt er seinen Kopf und murrte leise: »Oh Gott! Was für ein großes Unheil ist doch der Tod!«

      Frau Sami, die sowohl das Messer des Mörders als auch das zerschnittene Hirn des Doktors gesehen hatte, begriff sogleich die versteckte Botschaft jenes heuchlerischen Wohlwollens. Deshalb sagte sie zu dem ersten Menschen, den sie antraf, bevor sie müde und zerschlagen mit zwei vor lauter Weinen blutunterlaufenen Augen in ihr Zimmer ging, um sich für lange Zeit dort einzusperren: »Sieh zu, was diese tollwütigen Hunde wollen! Tu das, was sie wollen!«

      Niemand schenkte dem Inhalt des Briefes Glauben, der am Tag darauf mit der Unterschrift »Familie Sami« in allen Zeitungen erschien. Der Grund lag nicht darin, dass in dieser Anzeige den Bemühungen der »hochrangigen staatlichen Repräsentanten, insbesondere der Stellvertreter der Obersten Führung, der Regierungsmitglieder sowie der verehrten Abgeordneten des Islamischen Parlaments und …« ziemlich überschwänglich gedankt wurde,


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