Reform oder Blockade. Andreas Zumach
Veränderung des Sicherheitsrats erfordert eine Veränderung der UNO-Charta. Diese ist nur möglich, wenn mindestens zwei Drittel der 193 Mitgliedstaaten zustimmen, darunter die P5. Angesichts dieser Realitäten sollten die Mitgliedstaaten nicht weiter Zeit und politische Energie auf eine Reform des Sicherheitsrats verwenden, sondern sich für die zahlreichen Reformen des UNO-Systems engagieren, die auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrats möglich sind. Das gilt für die allermeisten der bis heute unerledigten Vorschläge Annans.
Agenda 2030, mehr Geld und eine ständige UNO-Truppe
Unter den vielen Einzelmaßnahmen aus Annans Reformplan waren und sind auch weiterhin drei von zentraler Bedeutung für die künftige Handlungsfähigkeit der UNO: die Umsetzung der Agenda 21 für eine gerechte globale Entwicklung, eine ausreichende und verlässliche Finanzierung des UNO-Systems sowie die Schaffung von UNO-eigenen Polizei- oder Militäreinheiten.
Die Agenda 21 für eine gerechte globale Entwicklung war aus den Ergebnissen der acht großen UNO-Weltkonferenzen der neunziger Jahre hervorgegangen. Zu ihrer Umsetzung hatte die Generalversammlung im Herbst 2000 die »Acht Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis zum Jahr 2015« beschlossen. Diese Ziele wurden zum Teil erreicht.
Nachfolger der »Millenniumsziele« ist die im September 2015 von einem UNO-Gipfel verabschiedete »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung«. Sie versteht sich gemäß ihrer Präambel als ein globaler »Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand«, der den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen möchte. Kernelement der Agenda 2030 sind die siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung, die im Rahmen des Aktionsplans über 160 konkrete und überprüfbare Maßnahmen und Zielsetzungen für eine nachhaltigere Entwicklung vorgeben.
Die Agenda 2030 steht unter dem Titel »Transformation unserer Welt« und verdeutlicht somit den Anspruch, grundlegende Veränderungen hin zu einer nachhaltigen Welt voranzutreiben. So strebt die Agenda 2030 zwar weltweite Entwicklungen an, beispielsweise um Menschen aus Armut und Hunger zu befreien oder sie durch gute Arbeitsplätze an Wohlstand teilhaben zu lassen, möchte diese jedoch in nachhaltige Bahnen lenken. Grundvorstellung der Agenda 2030 ist, dass eine nachhaltige Entwicklung und wahres Wohlergehen jenseits von reinem materiellem und finanziellem Wohlstand nur dann möglich sind, wenn Umwelt und Klima geschützt und erhalten werden und alle Menschen gleichberechtigt sind und nicht ausgebeutet werden. Entwicklung darf und kann nicht auf Kosten des Planeten oder der Lebensumstände anderer Menschen und anderer Gesellschaften geschehen.
Dabei verfolgt die Agenda 2030 einen universellen Anspruch, der nicht nur die armen Länder des globalen Südens, sondern ausnahmslos alle Staaten der Welt zu »Entwicklungsländern« mit Nachholbedarf erklärt, ausdrücklich auch die Industriestaaten, die eine besondere Verantwortung tragen, weil ihre Wirtschaftsweise oft auf der Ausbeutung anderer Regionen aufbaut. Die Agenda 2030 benennt Maßnahmen, wie die Industriestaaten ihre Politik in den Bereichen Energie, Umwelt, Verkehr, Warenproduktion, Handel nachhaltiger gestalten könnten.
Um den Umsetzungsstand der Agenda 2030 zu beurteilen, sind alle Mitgliedstaaten aufgefordert, regelmäßig umfassende Überprüfungen der Fortschritte auf nationaler und subnationaler Ebene durchzuführen.2
Mit welchen konkreten Maßnahmen die siebzehn Ziele der Agenda bis zum Jahr 2030 umgesetzt werden könnten, ist sehr detailliert und anschaulich in der Broschüre »Gut leben global« beschrieben, die die deutsche Sektion von Terre des hommes und die Nichtregierungsorganisation Global Policy Forum veröffentlicht haben.3
Fünf Jahre nach Verabschiedung der Agenda 2030 hat das Global Policy Forum im Dezember 2020 zudem eine erste, sehr gemischt ausfallende Zwischenbilanz vorgelegt unter dem Titel »Agenda 2030. Wo steht die Welt? Fünf Jahre SDGs« vorgelegt.4
Zu wenig Geld für immer mehr Aufgaben
Die UNO ist – entgegen manch feindlicher Propaganda insbesondere in ihrem bislang gewichtigsten Mitgliedstaat USA – keine Weltregierung. Sie verfügt weder über eine eigene Flotte schwarzer Hubschrauber, noch hat sie eine Notenbank und kann sich eigenes Geld drucken. Die UNO darf sich noch nicht einmal Geld bei Banken leihen oder Kredite aufnehmen. Jeder Cent, der für die vielfältigen Ausgaben des weltweiten UNO-Systems ausgegeben wird, muss zunächst von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.
Wäre die UNO ein kommerzielles Unternehmen, hätte sie bereits vor einem Vierteljahrhundert Bankrott anmelden müssen. Ende 1994 fehlten in der UNO-Kasse 3,2 Milliarden Dollar. Durch die umfangreichen militärischen Friedensmissionen in Exjugoslawien, Kambodscha und Somalia mit insgesamt über 150’000 Blauhelmsoldaten waren die Kosten für Peacekeeping-Operationen der UNO in den ersten vier Jahren nach Ende des Kalten Krieges fast um das Zehnfache gestiegen. Zugleich war die Zahlungsmoral der damals 184 Mitgliedstaaten auf einem historischen Tiefpunkt. Lediglich 56 Staaten hatten ihre Beiträge für 1994 voll bezahlt. Seitdem haben die globalen Herausforderungen an das UNO-System und seine von den Mitgliedstaaten beschlossenen Aufgaben und Aktivitäten noch erheblich zugenommen – und damit auch die Kosten. Mit dem bisherigen Finanzierungsmodell für die UNO lassen sich diese Kosten nicht mehr decken. Es bedarf auch hier einer grundlegenden Reform.
Humanitäre Überlebenshilfen müssen eingestellt werden
Die UNO sowie ihre Sonderorganisationen und Spezialprogramme erhalten von ihren Mitgliedstaaten viel zu wenig Geld, um den Auftrag der Charta von 1945 und die vielen Aufgaben zu erfüllen, die die Mitglieder in den letzten 75 Jahren beschlossen haben. Wobei die Herausforderungen an die Weltorganisation und die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Finanzmittel im letzten Vierteljahrhundert seit Ende des Kalten Krieges besonders stark gestiegen sind. Bereits 2014 – einem Jahr mit vielen andauernden und neuen Gewaltkonflikten – zeigte sich die Finanznot auf bis dato nicht gekannte dramatische Weise. Sogar die humanitäre Überlebenshilfe der zuständigen UNO-Organisationen für Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen war nicht mehr gewährleistet. Häufiger und in größerem Umfang als je zuvor mussten das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) und das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP) die Nahrungsmittelhilfen für bedürftige Menschen kürzen oder gar ganz streichen.
Wegen ausbleibender Finanzmittel von den Mitgliedstaaten sahen sich das UNHCR und das WFP zum 1. November 2014 zunächst gezwungen, die Nahrungsmittelhilfe für 1,7 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, Irak, Türkei und Ägypten um ein Drittel zu kürzen. Der mit dieser Maßnahme verbundene dringende Appell an die Mitgliedstaaten, mehr Geld zu überweisen, fruchtete wenig. Der damalige UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge und heutige UNO-Generalsekretär Antonio Guterres kehrte von seinen mehrfachen Bettelreisen im Herbst 2014 nach Berlin, Paris, London und anderen Hauptstädten jeweils mit leeren Händen nach Genf zurück. Daraufhin mussten UNHCR und WFP die Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen an die 1,7 Millionen Flüchtlinge zum 1. Dezember 2014 einstellen. Mit diesen Gutscheinen konnten die Flüchtlinge in den lokalen Läden ihrer Fluchtorte Lebensmittel einkaufen. Bis zum 1. Dezember waren über dieses Gutscheinprogramm rund 800 Millionen US-Dollar in die Wirtschaft der fünf Hauptaufnahmeländer für syrische Flüchtlinge geflossen. Nur dank einer über Twitter und Facebook lancierten Spendenkampagne – ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der Finanzierung von UNO-Maßnahmen – gelang es dem WFP, 80 Millionen US-Dollar einzusammeln. Damit war die Wiederaufnahme und Fortsetzung des Gutscheinprogramms erst einmal bis Mitte Januar 2015 möglich.
Diese dramatische Finanzkrise von UNHCR und WFP in der zweiten Jahreshälfte 2014 war der Grund, warum bereits ab Dezember 2014 die Zahl syrischer Flüchtlinge, die nach Europa kamen, signifikant anstieg, und nicht erst die »Wir schaffen das«-Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 31. August 2015, wie viele Kritiker und Gegner ihrer Flüchtlingspolitik wider alle Fakten bis heute behaupten. 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge, die ab Dezember 2014 in immer größeren Zahlen nach Deutschland und in andere EU-Staaten kamen, waren nicht unmittelbar aus Syrien geflohen. Sie kamen aus den Flüchtlingslagern in Syriens Nachbarstaaten, weil dort ihre Versorgung