Onanieren für Profis. Arne Hoffmann
Madonna taten einiges, um Selbstbefriedigung als Teil ihrer Bühnenperformance der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Radikalfeministinnen wie Alice Schwarzer hingegen zogen derweil noch immer mit Parolen wie »Gegen Pornos und Wichser!« durch die Lande. Tatsächlich war die Porno-Industrie ein entscheidender Einflussfaktor darauf, dass die verschiedenen Varianten der menschlichen Lustbefriedigung auch einem breiteren Mainstream offen zugänglich gemacht wurden.
Allmählich besannen sich die Sexualexperten eines anderen. In einem ersten Schritt wurde für Mediziner, Pädagogen und Psychologen Selbstbefriedigung zunächst ein ganz natürlicher Teil des jugendlichen Entwicklungsprozesses. Noch weiter aufgeweicht wurde das Tabu durch den sich neu herausbildenden Markt der Ratgeberliteratur: Die international bekannteste Koryphäe auf diesem Gebiet, Dr. Ruth Westheimer, empfahl Masturbation ebenso ausdrücklich auch für Erwachsene wie beispielsweise Alex Comfort (»Joy of Sex«). Selbst das alte Märchen, dass Selbstbefriedigung ein Notbehelf für Einsame war, letztlich also doch auf eine Charakterschwäche hinwies, verschwand. Neuere Untersuchungen ergaben, dass Menschen um so öfter onanieren, je aktiver sie auch sonst im Sexualleben sind. Jemand, der schon früh im Leben mit solchen Entspannungsübungen beginnt, ist auch mit einem Partner um so intensiver zugange – vielleicht wegen einer offeneren Einstellung gegenüber Sex, vielleicht wegen einer größeren Vertrautheit mit dem eigenen Körper und seinen Reaktionen. Bekanntes Beispiel ist der Schriftsteller David Guy, der in seinem Buch »The Autobiography of my Body« (»Die Autobiographie meines Körpers«) seinen Lebenslauf der Selbstbefriedigung darlegt und zu dem Schluss kommt, die glücklichsten Erfahrungen damit in den Phasen gehabt zu haben, in denen er verheiratet war.
Dass Selbstbefriedigung inzwischen überhaupt kein Tabu mehr darstellt, ist allerdings auch wieder nicht wahr. Obwohl deutlich über 90 Prozent aller sexuell gesunden Personen Gefallen daran finden, wäre es beispielsweise als Gesprächsthema auf Partys immer noch kaum vorstellbar. US-Präsident Clinton musste 1995 den Rücktritt seiner Gesundheitsministerin Dr. Jocelyn Elders, Universitätsprofessorin der Pädiatrie, einfordern, nachdem diese Masturbation öffentlich als natürlichen Bestandteil der menschlichen Sexualität bezeichnet hatte und darauf verwies, dass sie zumindest die Verbreitung von AIDS und Teenager-Schwangerschaften verhindern könne, so dass man vielleicht sogar in den Schulen darüber unterrichten solle. Ein öffentlicher Aufschrei des Protests war die Folge. Auch Clintons Vize-Präsident Al Gore wurde während seiner Wahlkampfkampagne in Artikeln deshalb angefeindet, weil er Naomi Wolf als Beraterin engagiert hatte und diese Masturbation als Mittel der Selbsterkundung für junge Frauen in ihrem Buch »Promiscuities« unterstützte. Und im Deutschland des Jahres 2001 verlor Axel Kunert, Autor des »Handbuchs der Onanie« (Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf), seinen Job als Leiter eines Fachverlags, nachdem seine Arbeit an diesem Thema öffentlich wurde.
In Film und Fernsehen war diese Praktik vor 1960 quasi komplett unsichtbar, wurde also nicht einmal warnend oder abwertend dargestellt. Das Fernsehen nahm sich dieses Themas später vor allem in Sitcoms an. Berühmtheit erlangte hier vor allem die 49. Episode der Reihe »Seinfeld« (Folgentitel: »The Contest«, in den USA erstausgestrahlt am 18. November 1992). Darin ging es um eine Wette, wer am längsten »ohne« aushält – das Wort »Masturbation« selbst fiel nie.
Kinofilme insbesondere der späten Neunziger boten diesem Thema noch etwas mehr Raum. So verwöhnten sich Männer selbst in Filmen wie »American Beauty«, »American Pie« und »Verrückt nach Mary«, Frauen in »The Crow: City of Angels«, »Sliver«, »Pleasantville« und ebenfalls »American Pie« (in dem es ohnehin um fast nichts anderes geht). Man könnte noch einige andere Filme aufführen. Eine sehr eindringliche Masturbationsszene ist beispielsweise auch in David Lynchs »Mulholland Drive« zu sehen. Dennoch, so befindet zumindest Rebecca Alvin in ihrer lesenswerten Studie »Masturbation Taboo in the American Media«, sind entsprechende Szenen im Gegenwartskino insgesamt noch immer sehr selten und fallen vor allem auf drei prototypische Darstellungsweisen zurück:
a) Der/die Masturbierende wird als einsamer Mensch gezeigt, der sich aus Verzweiflung selbst befriedigt (etwa in »Happiness«, vertreten durch den obszönen Serienanrufer Allen, oder »Mulholland Drive«, vertreten durch die von unerreichbarem Ruhm und Zuwendung träumende Betty/Diane; den Anfang von Brian de Palmas »Dressed to Kill« sowie »American Beauty« könnte man hinzufügen);
b) Masturbation symbolisiert sexuelle Abweichung oder einen Charakterfehler (etwa in Abel Ferraras »Bad Lieutenant«, vertreten durch den namenlosen, von Harvey Keitel gespielten Anti-Helden, sowie ebenfalls in »Happiness«, vertreten durch den pädophilen Vater Bill, der sich vor Jungenmagazinen einen ’runterholt);
c) Masturbation ist ein Initiationsritus für den Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden (etwa in »American Pie«, vertreten durch verschiedene männliche und weibliche Teenager in den absurdesten Situationen, sowie erneut in »Happiness«, vertreten durch Bills Sohn Billy, der in der Schlusssequenz des Films nach seiner ersten Ejakulation der gesamten Familie stolz verkündet, dass er gerade gekommen sei).
Nur höchst selten, wenn überhaupt, wird Masturbation mit jener Selbstverständlichkeit präsentiert, die sie für fast jeden Menschen in seinem ganz normalen Alltagsablauf darstellt. Stattdessen werden althergebrachte Stigmata lediglich in leicht veränderter Form übernommen. Da Medien prägend für das Entstehen kultureller Normen sind, kann dies dazu führen, dass viele Leser und Filmzuschauer ihre eigene Lebenswirklichkeit als fragwürdig erleben: Wer sich selbst befriedigt, ist diesen Medienbildern zufolge immer noch charakterschwach, vereinsamt, krank oder auf einer jugendlichen Entwicklungsstufe stehengeblieben. Auch bleibt Masturbation selten ohne (negative) Folgen. Onanie als Beschäftigung glücklicher, sexuell erfüllter Menschen mit Vorbildcharakter zu zeigen unterliegt sehr häufig immer noch einem Tabu. Eine der wenigen Ausnahmen, in denen Selbstbefriedigung gar als befreiend und beseligend gezeigt wurde, war »Pleasantville« – ein Film, der wegen solcher Szenen von schockierten Christen quer durch die USA mit empörten Reaktionen bedacht wurde.2
Woran liegt es also, dass bis hinein in die jüngste Gegenwart eine so angenehme und unschädliche Beschäftigung wie die Selbstbefriedigung noch immer einem Makel unterliegt? Der Psychologe und Soziologe Volker Elis Pilgrim sieht den Grund darin, dass Sexualität auch und gerade in unserer Gesellschaft genauso auf Leistung ausgerichtet sein müsse wie alles andere: »Der Trieb darf weder schweifen noch Muße haben, er selber ist den Kategorien der Leistung unterworfen.« Tatsächlich aber, so Pilgrim, werde man der menschlichen Sexualität nicht gerecht, wenn man sie auf ihre Funktion der Fortpflanzung reduziere und ihre ebenso wichtige Funktion als »biochemisches Phänomen zur Regulation des gesamten organischen Haushaltes« übergehe: »Sogar die allgemeine Natur interessiert immer erst die Erhaltung des Individuums, dann die der lebenden Artmitglieder und schließlich erst die Hervorbringung der Nachkommen. (…) Dem Körper ist nicht genug gut getan, wenn seine sexuellen Bedürfnisse an eine Person gekettet werden.«
Was eine prima Überleitung zu unserem nächsten Kapitel darstellt …
2 Kennen Sie Ayn Rand? Bei uns kaum bekannt, erreichte sie in den USA Millionenauflagen und gilt dort als der (weibliche) "Guru des (Radikal-)Kapitalismus" und Begründerin des "Objektivismus". Selbst geringste staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen galten ihr bereits als verwerflicher "Sozialismus". Das Christentum lehnte sie ebenfalls ab. Die Heroen in ihren Büchern waren allesamt erfolgreiche Erfindergenies oder Firmengründer, Menschen, die geistig schöpferisch waren und neue Wege beschritten. Nichts empfand Rand als schimpflicher, als geistig "aus zweiter Hand zu leben" - was sie nicht daran hinderte, eine sektenähnliche Gemeinschaft von Schülern um sich zu scharen, von denen sie bedingungslose geistige Gefolgschaft verlangte, wie Jeff Walker in seinem kritischen Buch "The Ayn Rand Cult" (1999) darlegte. Auch sexuell stellten die Rand'schen Helden höchste Ansprüche: Entweder sie fanden jemanden, der ihnen geistig ebenbürtig war - dann fielen sie vergewaltigungsgleich übereinander her -, oder sie fanden niemand Passendes - dann enthielten sie sich nicht nur jeglichen Verkehrs, sondern auch jeglicher Selbstbefriedigung. So kompromisslos waren die! Ein Rand'scher Held namens Francisco d'Anconia, Bergwerksbesitzer, war in "Atlas wirft die Welt ab" verknallt in die tüchtige Eisenbahnbesitzerin Dagny Taggart - nur leider machten es die Umstände jahrelang unmöglich, dass sich die beiden sahen. "Die Umstände" - das war ein immer "sozialistischer" werdendes Amerika. Um sein Bergwerk