Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land

Und die Titanic fährt doch - Ulrich Land


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überm Horizont im Nordwesten, das sieht gar nicht gut aus! … dass die beiden also trotzdem noch den Kopf frei haben für solche Spielchen!

      Plötzlich ein ohrenbetäubendes Klirren. Die Seifenschale ist zu Boden gegangen. Zumindest reißt das meine Blicke vom Revolver und seiner lüsternen Kugel los und fegt den Irrläufergedanken weg, Revolver und Kugel gleich jetzt zusammenzubringen, schneller, als unser guter Lightoller sich träumen lässt, und schneller, als der Unversehrtheit seines Leibes zuträglich wäre. Ich starre den Scherbenhaufen an. Noch nicht lange her, da flogen hier schon einmal unzählige Porzellanscherben auf dem Boden rum.

      Charles steht da mit entsetztem Blick, Setzrisse in der Schädeldecke und Schlaglöcher in der Seele. Nach geraumer Zeit löst er sich langsam aus der Schockstarre, geht in die Knie und beginnt, nach wie vor schweigend, die Scherben aufzusammeln. Wohlwissend natürlich, dass die Seifenschale nicht zufällig vom Waschtisch gerutscht ist. Und genauso schweigend geht er zum Bullauge, verschließt es und hämmert den Schraubknebel knüppelhart zu, bis die Schraube in allen Fugen ächzt.

      Im Herausgehen bekommt er dann doch noch die Zähne auseinander: »Hier kommt erst wieder einer rein – auch die Nurse, die dir das Essen bringt, kommt erst wieder rein, wenn ein Schuss gefallen ...«

      »Ja, wie?«, gehe ich dazwischen. »Wollt ihr mich verhungern lassen?«

      »Das wird nicht nötig sein, sagt der Chef, ähm, der Commodore. Und ich soll dir außerdem von ihm ausrichten, du möchtest, ähm, Sie möchten sich dessen gewiss sein, dass es Ihrer seemännischen Loyalität keineswegs trefflich zu Gesichte stehe, sollte sich der Schuss unverrichteter Dinge in der Holzvertäfelung der Kabine hier verirren oder etwa gar nicht aus dem Lauf lösen!«

      Damit fällt die Tür ins Schloss. Und ich bin allein mit Pistole und Patrone.

      Eine winzige Bewegung, und ich wäre den ganzen Scheißdreck los. Wie so ein Gerät funktioniert, ist mir durchaus geläufig – Waffenlehrgang. Daher kenne ich schließlich den Alten: unser Ausbilder in Sachen »nautische Offiziershaltung bei der Waffenanwendung«. Auch wenn ich bis heute nicht begriffen habe wieso, aber noch Jahre nach dem Lehrgang hat er für mich bei der White Star Line ein gutes Wort eingelegt. Ein so gutes Wort offenbar, dass sie mich vom Fleck weg eingestellt haben.

      Also tun, was zu tun ist: Die verdammte Kugel ihrer Bestimmung zuführen. Einlegen, anlegen, direkt an die Schläfe, oder noch sicherer: an den Gaumen. Und … abdrücken. Und aus und vorbei. Sollen sie doch sehn, wie sie hier die Karre aus dem Dreck, den Kahn aus den kalten Fluten ziehn! Sollen sie den Stab über mich brechen, Gutachterkommission, Untersuchungsausschuss, Seegericht, Strafgericht – lässt sich das ganze Prozedere auf das Angenehmste in Maß und Grenzen halten. Keine Sperrigkeit der Materie, kein Widerspruch in der Sache, kein widerspenstiger Angeklagter. Könnte ich mich wenigstens, was die Kosten der Nachwehen angeht, noch nützlich machen für Reederei und Werft. Ich meine, man munkelt ja, dass die White Star Line sowieso finanziell mit dem Rücken an der Wand steht. Wenn nicht schon hinter der Wand. Also! Kann ich mit diesem einen einzigen winzigen Rotationskörper hier zwischen meinen Fingern ein ordentliches Scherflein beitragen zur Kostenersparnis, zur Zukunft der Reederei und der ganzen christlichen Seefahrt.

      Und ich für meine Person wäre auch aus dem Schneider. Muss mich nicht vor der Welt verantworten. Und vor Gott und Poseidon nicht. Muss den ganzen Torfnasen nicht versuchen, begreiflich zu machen, warum in dieser Sekunde vor dem Crash und Clash nicht anders zu handeln war. Dass andernfalls die Katastrophe gradezu apokalyptische Dimensionen angenommen hätte. Dass mindestens die Hälfte unserer Schutzbefohlenen den Bach runtergegangen wäre. Dass nicht zuletzt auch die White Star Line und Harland & Wolff aufs Schafott der in diesen Zeiten von Funk und Telegrafie über den ganzen Globus hinweg operierenden Moralinstanzen getragen worden wären. Dass nach den fallbeilscharfen Kommentaren der Tagespresse und den paar ersten Wochen der Trauer um die Opfer der Untergang dieser Krone der technischen Schöpfung allemal Stoff für Jahrhunderte währende Häme, für kitschige Liebessagas und ausufernde Romane geliefert hätte.

      Könnte ich mir diese ganzen Rechtfertigungsarien sparen. Und das schweigend Ertragen-Müssen irgendwelcher steilen Thesen von selbsternannten Granden der Schiffsbaukunst, irgendwelcher abenteuerlicher Expertisen aus dem höchst berufenen Munde von Manöverkritikastern, Beckmessern, Weisheitslöffelfressern, von geldgeimpften Füllfederhaltern aller Art. Die Mühe, noch die verschlungensten Pfade der elend knarrenden Mühlen der Rechtsprechung zu durchschauen, die Begriffsstutzigkeit abgehalfterter Advokaten einerseits und die sibyllinisch abgezirkelten Winkelzüge ausgekochter Rechtsverdreher andererseits. Das Geseiche weißgewandeter Seelenbeschauer, die meine Zurechnungsfähigkeit in Frage stellen beziehungsweise unter Beweis stellen wollen, je nachdem von welcher Seite sie entlohnt werden. Mal ganz zu schweigen von der Brut neunmalkluger Katastrophenreporter, Tratschpoeten, Groschenromanciers.

      Also!

      Nicht mal mehr vor Lightoller müsste ich noch gradestehn für meine Entscheidung. Ich meine, das war doch unverkennbar eben, wie sein rechtes Augenlid, wie das immer wieder ganz leicht, ganz kurz, aber zigmal hintereinander zuckte. Wie er mit seinen Zweifeln gekämpft hat, ob er noch auf meiner Seite stehen kann. Sich gefragt hat, wie er sich einrichten soll zwischen den Stühlen der Loyalität zu Captain und Reederei einerseits und der während der letzten Tage in der Offiziersmesse aufgefrischten, aber eigentlich schon Jahre zuvor angebahnten Freundschaft zum, sagen wir: Delinquenten andererseits.

      Natürlich hat Charles mein Handeln verstanden, hat vielleicht sogar begriffen, dass es die einzige Chance war, und hätte doch selber niemals so gehandelt. Wusste natürlich genau wie ich, dass in den vorderen Rumpfkammern etliche von den Leuten aus der Crew nichts ahnend in ihren Kojen lagen, Matrosen, Heizer und Trimmer. Hätte er nicht, hätte er nie übers Herz gebracht, deren Leben aufs Spiel zu setzen. Auch wenn er tausendmal gewusst hätte, dass das der einzige Weg wäre, um das Schiff und den Großteil der Passagiere zu retten. Die anstehenden Endlosdebatten mit Lightoller würde ich mir also auch mit einer schnellen Bewegung meines Zeigefingers sparen können.

      Also!

      Verdammt noch mal, ist so ‘n Revolver schwer! Bleischwer. Aber, mein Gott, ich werd doch noch ein Kilo Eisen bis zur Schläfe heben können! Und kalt, eiskalt, ist Eisen kalt!

      Ich … ich meine, vielleicht später. Geht ja später auch noch. Wer zwingt mich denn, wer hätte denn das Recht, mich zu zwingen, das jetzt, genau jetzt zu erledigen? Okay, friemel ich die Kugel einstweilen wieder raus. Leg den Revolver wieder aufs Regal, die Kugel – aufreizend wie sie ist – daneben. Soll mich das Metall doch anblitzen, angiften, anschreien! So leicht dreht ein Murdoch, Erster Offizier zur See, nicht bei. Nein, der stellt sich der Auseinandersetzung! Breitbeinig dastehend auf den Planken seines vermutlich letzten Schiffes.

      - . -

       6

      In der Mittagspause vor dem Crash, mir will beim besten Willen nicht einfallen, was wir da gegessen haben. Mit Lightoller, ich weiß, dass ich mit Lightoller in der Messe gesessen hab. Schräg vorne an dem begehrten Fenstertisch. Und ich weiß, dass wir übers Blaue Band geredet haben. Um nicht zu sagen: gestritten haben.

      »Nein«, sagte ich neunmalklug, »nein, ich persönlich, also wenn du mich persönlich fragst, mir ist es mit Verlaub schnurzegal, ob wir ein paar Minuten früher in New York auf der Matte stehen beziehungsweise am Ambrose-Feuerschiff unsere Ankunft betuten oder nicht.«

      »Aber?«

      »Aber weder ich noch du, keiner von uns hat hier das Sagen.«

      »Du willst sagen ...?«

      »Lieber Himmel, du weißt doch, was dieser lächerliche Wettstreit um die schnellste Überquerung des Teichs – seit, ja, seit wann eigentlich? Seit zwei, drei Jahrzehnten allemal –, was dieser Wettlauf für eine verrückte Bedeutung gewonnen hat. Sieht fast so aus, als würden Wohl und Wehe der Krone selbst und ganz Großbritanniens davon abhängen. Immerhin sind unsere Schiffe, was das ›Blaue Band‹ angeht, die unerreichten Champions.«

      »Prestige, Prestige! Weiß ich, brauchst du mir nicht zu erzählen«, brummte Lightoller.

      »Ich hab‘ das sofort


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