Die Faxen Dicke. Reiner Hänsch

Die Faxen Dicke - Reiner Hänsch


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aber dann ist es mir auch schon klar, wir haben ja heute Weihnachten.

      „Merry Christmas!“, antworte ich also fröhlich und reiche ihm lächelnd, aber etwas nervös, da wir die Zeit um fünf Minuten verpasst haben, den Coupon. Wenn das mal keinen Ärger gibt!

      Aber er weist uns nur noch mal höflich darauf hin, dass es nur bis „tännäclock ey ämm Bläckfäss“ gäbe, dann gibt er uns den letzten noch freien Tisch – direkt neben der Toilette – ohne Sicht, ohne Palme, ohne Hoffnung. Verlierer.

      Die Bayern grinsen hämisch. Na, wartet, denke ich. Morgen sind wir früher da. Die Sauerländer kommen noch!

      Steffi sieht sich die fast tödliche Verletzung von Max jetzt genauestens an, gibt dann aber zögerlich Ruhe, weil wirklich nichts mehr zu sehen ist. Und von einer roten Spur des Todes bis zum Herzen schon gar nicht. Sie prüft das aber alle zwei bis drei Minuten mit einem sorgfältigen Blick auf den Fuß nach.

      „Wott ju wont, Sir“, verneigt sich der nette, junge thailändische Mann, der eine Art folkloristische, landesübliche Tracht zu tragen scheint, die aber schon leicht zerschlissen, farb- und freudlos und teilweise auch in Fetzen an ihm herunterhängt und ihre besten Tage schon lange hinter sich hat. Er ist sehr freundlich und reicht mir bedenkenlos eine zerfledderte, laminierte Speisekarte, die sicher schon Generationen von Touris nachdenklich und interessiert auf der Suche nach der richtigen Essensentscheidung in ihren sonnenölverschmierten Händen gewendet, geknetet und bearbeitet haben müssen und deren Preise alle mit kleinen Schildchen überklebt und sicherlich speziell für uns saftig erhöht worden sind. Aber wir sind ja Pauschalis

      Bläckfäss inkluussiff.

      „Wott ju häv?“, frage ich zurück, schon recht gewandt, wie ich meine, mit der neuen Thai-Englisch-Sprache umgehend.

      „Koffie, tii, tooss, sklämbel ägg, boil ägg, flei ägg, orän dschuu.“

      Das hört sich doch nach einer gewaltigen Auswahl an, und ich nicke ihm wohlwollend und anerkennend zu. Meine liebe Steffi frage ich allerdings etwas nörgelig: „Gibt’s kein Buffet hier?“ Steffi zuckt mit den Achseln. Dann frage ich eben den freundlichen, jungen Mann: „No buffet?“

      „No baffej“, bestätigt er mir freundlich lächelnd, schüttelt eifrig den Kopf und wartet höflich und weiterhin lächelnd auf unsere Entscheidungen betreffs der etwas eierspeisenlastigen Frühstückskarte. Ich entscheide mich spontan und locker für „flei ägg“, also Fried Eggs, jaja, ich habe schon verstanden, „Koffie“ und „Orän Dschuu“. Steffi nimmt fatalistisch ergeben das gleiche plus Mineralwasser und Max nur Tooss und Marmelade.

      „Mmh, kein Buffet, schade, kein Käse, keine Wurst und leider auch keine typischen thailändischen kleinen Schweinereien“, bemerke ich nur so nebenbei, und das ist auch wirklich schon alles.

      Aber Steffi fühlt sich durch diese so dahingesagten, nichts Böses wollenden Worte dermaßen angegriffen, dass sie aufgebracht kontert: „Ach, und dafür willst du MICH jetzt wohl verantwortlich machen? Weil ICH den Prospekt nicht sorgfältig genug studiert habe, was DU natürlich gemacht hättest. Das willst du doch damit sagen, oder etwa nicht?“

      „Aber Steffi, ich meine doch nur ‚schade‘. Mehr nicht. Ist doch egal. Das Beste ist doch: Wir haben uns und sind gesund.“

      Das sagen wir immer, wenn was wirklich Schlimmes passiert ist und man froh sein darf, überhaupt noch am Leben zu sein.

      Ist also eher falsch.

      Steffi ist den Tränen nahe und schluckt schwer. Max holt seinen neuen Game Boy Advance SP heraus und vertieft sich in ein unglaubliches Hundespiel, bei dem man junge Hunde aufziehen, füttern und trainieren muss. Es ist so realistisch, dass sie sogar auf Teppiche pinkeln oder auf den Rasen kacken. Sagenhaft.

      „Wir hätten alles ganz anders machen müssen, ich weiß“, schluchzt sie, „aber es musste ja alles so schnell gehen und da hab ich gedacht …“

      „Ist doch alles gut, Steffi, ich find’s prima hier, wir haben doch alles, was wir brauchen, man gibt uns zu essen und ist freundlich zu uns und besonders teuer ist es auch nicht, obwohl wir uns etwas mehr schon hätten leisten können. Zum Beispiel ein tolles Frühstücksbuffet.“

      Das war’s.

      Sie bricht regelrecht zusammen, schluchzt laut los und ist nicht mehr aufzuhalten. Das Ehepaar Leichenhalle sieht interessiert zu uns herüber und steckt die Köpfe zusammen, und auch die anderen Gäste scheinen eine aufregende, abwechslungsreiche Szene zu erwarten. Ehestreit im Urlaub ist ein besonders beliebtes Betätigungsfeld für gerade angekommene Neu-Touris, und wird von allen immer wieder gern als willkommene Abwechslung im langweiligen Urlaubsalltag angenommen. Der Stress der Anreise steckt noch in allen Knochen und das unerwartete Freizeitloch, das sich plötzlich vor einem auftut, ist so groß und tief, dass es einem Angst macht, und da öffnen sich schon mal die Ventile.

      Es ist augenblicklich still und sogar die Wiener Caféhausmusik, die die ganze Szenerie bisher geradezu gespenstisch untermalt hat, verstummt. Die folkloristischen Bedienungen halten erschrocken inne mit dem freundlichen Ausschank von Koffie oder Tii und dem Ausliefern der drei verschiedenen Zubereitungsarten von Ägg.

      Steffi verschwindet in der Toilette, von daher ist unser Platz strategisch durchaus günstig gewählt, und ich lächle den Leuten freundlich zu und warte sehnsüchtig auf Steffis Rückkehr und meine Flei Ägg.

      Eins ist jetzt schon klar: Wir sind in einer ganz üblen Absteige gelandet. Darüber kann auch die Freundlichkeit des bemühten Folklore-Personals nicht hinwegtäuschen. Das „Paradise Rock Resort“ liegt in den letzten Zügen und man nimmt noch mit, was so an bekloppten Touristen angespült wird.

      Was soll’s, wir sind jetzt hier und machen Urlaub. Jetzt erst recht!

      Das Frühstücksareal selbst ist eine gefährlich wippende, knarrende, nach drei Seiten offene Holzebene, die dem Deck eines abgewrackten Bananenfrachters gleicht. Es ist alles zerschunden und zerrieben von Millionen von Touristen, die hier schon seit Jahrhunderten durchgeschleust worden sind und sich auf diesen Brettern von Koffie, Flei Ägg und Orän Dschuu ernährt haben, beziehungsweise knapp dem Hungertod entgangen sind, denn wirklich genießen kann man weder den Koffie noch die Flei Ägg. Der Kaffee ist eine üble, braunschwarze Brühe, die dem Aussehen nach eher dem ähnelt, was aus unserem Wasserhahn kommt. Es gibt nur eine vage Erinnerung an das aromatische Heißgetränk aus Südamerika, wenn man vorsichtig daran riecht. Den Rest überdeckt, wenigstens auf unserem Platz, der Gestank aus der Toilette. Die Flei Ägg sind unten verbrannt und das Gelbe ist hart. Schlimmer kann man Spiegeleier nicht versauen. Und der Toast ist eben einfach Toast, nicht einmal langweilig genug, um verdient zu haben, hier überhaupt erwähnt zu werden. Marmelade gibt’s auch. Die Lasche der Verpackung bekommt man aber nur mit den Zähnen auf.

      Das ist also Urlaub? Na gut. Man muss sich eben dran gewöhnen. Aber: Ich habe bis jetzt noch ein nicht einziges Mal an meine Zeitung im Sauerland gedacht. Ob’s die wohl noch gibt? Für mich jedenfalls die nächsten zwei Wochen nicht. Aber Ulli oder Don Camillo muss ich später trotzdem unbedingt anrufen. Vielleicht brauchen sie mich ja doch. Es könnte ja doch was passiert sein – endlich mal. Ach ja, das Handy ohne Ladegerät …

      Ich ziehe es vorsichtig aus meiner Tausend-Taschen-Hose und registriere noch vier Ladebalken. Könnte also noch eine Weile funktionieren. Schaltens wir’s also lieber erst mal aus.

      Dann nippe ich an meiner braunen Brühe, schnibbele ein wenig am Toast herum und nutze die sinnlose Zeit des Wartens – mit Max kann man jetzt nicht reden, sein Hund hat gerade auf den Teppich gekackt –, um mir ein Bild von unseren Mitgefangenen zu machen. Schließlich ist es nicht unwichtig zu wissen, mit welchen Menschen man gemeinsam die Zeit der Verbannung verbringen wird, und ob es schon jetzt Anzeichen für mögliche spätere Spannungen und Auseinandersetzungen mit anderen Inhaftierten geben könnte.

      Es gilt schon jetzt im Vorfeld, klug zu bewerten, wem man lieber aus dem Weg gehen soll und mit wem man sich möglicherweise zusammentun kann, um hier im tropischen Straflager Verbündete zu haben, mit denen man vielleicht sogar Ausbruchspläne in die Tat umsetzen


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