Fußball! Vorfälle von 1996-2007. Jürgen Roth
des 1. FC Köln 1971 den Film zum erstenmal sahen, verließen sie vorzeitig die Vorstellung. ›Geht das immer so weiter?‹ lautete nach der Erinnerung des Produzenten Werner Grassmann die am häufigsten gestellte Frage des Abends. ›Da half es nichts, daß feinere Getränke als Bier gereicht wurden.‹«
Ein ähnlich avanciertes, allerdings ungleich variantenreicheres Verfahren wählte Joachim Kreck, als er 1973 mit No 1, seinem Regiedebüt, eine schließlich fünf Filme umfassende, vielfach prämierte Reihe von (Kurz-)Filmen über Fußball eröffnete, die 1990 mit Der Mann an der Seitenlinie, dem »weltweit einzigen Fußballdokumentarfilm über einen Linienrichter« (Jan Tilman Schwab: Fußball im Film – Lexikon des Fußballfilms, München 2006), ihren Abschluß fand.
Ausgenommen die in Schottland unter Aspekten der Außendarstellung des Fußballs kontrovers diskutierte 47minütige Dokumentation The Big Clubs, die die religiös fundierte Rivalität zwischen Celtic Glasgow und Glasgow Rangers und den sich daraus speisenden Identifikationszwang samt Hooliganismus zum Gegenstand hat, verzichtet Kreck wie Costard auf jeden Interview-O-Ton und jeden Kommentar. Seine Montagen setzen durchweg eine Vielzahl von Close-Ups, die Schrittfolgen oder bestimmte Gesten in physischer Eindringlichkeit hervorheben, und teilweise extreme Zeitlupen ein. Die Engführung der Bildfolge und ihres Tempos mit der meist von Volker Kriegel beigesteuerten Musik generiert zudem groteske oder komische Effekte, die Kritiker wiederholt an streng stilisierte, ballettartige Abläufe erinnerten.
Krecks Beiträge zum Fußball zeugen »gleichermaßen von großem Fußballwissen und von filmtechnischem Können« (Münchner Filmmuseum). Schon No 1, am 26. Oktober 1973 auf den Sportfilmtagen in Oberhausen uraufgeführt, wurde vom Britischen Filminstitut als »einer der herausragenden Kurzfilme des Jahres« ausgezeichnet. Das rasante neuneinhalbminütige Stück (Kamera: Edward McConnell) widmet sich dem Torwart schlechthin, der Position des letzten Mannes, obschon es gleichermaßen als Hommage an Dr. Peter Kunter, den langjährigen Keeper von Eintracht Frankfurt, zu verstehen wäre.
Allein, es ist Kreck weder um die Rekonstruktion eines exemplarischen Spiels aus der Perspektive des Torwarts noch um die im Genre Fußballfilm fest beheimatete Inthronisation einer Legende zu tun. Kreck zerlegt die gegen Ende immer dynamischer komponierte, durch Volker Kriegels perkussiv akzentuierte Jazzrockarrangements (»Zoom« vom Album Spectrum) untermalte und pointierte Studie in Sequenzen, die prototypische Situationen des Berufsalltags illustrieren oder, besser, sezieren. Gleichwohl unterläßt es Kreck nicht, einen motivischen Rahmen aufzuspannen. Während Kunter zu Beginn einen unhaltbaren Treffer hinnehmen muß, endet No 1 mit einem Freeze, das den Protagonisten aus der Hintertorperspektive bei einer unerhörten Streckparade zeigt, ohne daß das Bild zu erkennen gäbe, ob sie von Erfolg gekrönt war.
Kein Bestreben nach Mythisierung, keine Gesten der Theatralität. Spektakulär sind allein die Flugeinlagen, die Zusammenstöße, die Abwehraktionen – das Hochsteigen und Zugreifen, das Fallen und Abrollen –, die in einer Art Galerie von Schnappschüssen bereits am Anfang signalisieren, daß es hier nicht um eine Narration, einen kondensierten Bildungsroman geht, sondern um eine weitenteils aus Tages- und Flutlichtspielausschnitten montierte Anordnung von körperlichen Abläufen, die sich selbst deuten. Kunter hechtet beim Training in die Weitsprunggrube, und schlägt er mal, jenseits des eigenen Übungspensums, eine Flanke, stürzt er unbeholfen. Doch als jener Figur, die auf dem Platz nicht gestaltet, aber waghalsig das Schlimmste, Gegentreffer nämlich, verhindert, wächst ihm, dem Vereinzelten, der sogar in der Kabine von den Mitspielern getrennt zu sein scheint, jene Verantwortung zu, die im heutigen Diskurs über den Stellenwert des Torwarts allgegenwärtig ist.
Der Verzicht auf einen gesprochenen Kommentar läßt die herauspräparierten Spielszenen zuweilen wie unter Glas erstarren. »Die methodische Raffung und Ballung von Aktionen, der konsequente Verzicht auf Kommentar, das alles überzeugt mich«, lobte Ror Wolf No 1, Joachim Krecks Pioniertat, die bis heute nur Insidern ein Begriff ist. Die Dialektik von Untätigkeit und Eingreifen, von angespanntem Warten und plötzlich geforderter, nicht selten gefährlicher Präsenz wurde hier erstmals adäquat filmisch konturiert, indem der Fußballsport bewußt reduktionistisch und gerade deshalb erkenntnisfördernd gänzlich auf die Rolle des letzten Mannes zugeschnitten blieb.
Selbst wenn Kunter am Spieltag auf den Rasen des Waldstadions trabt, wirkt er, in die Totale gerückt, einen kurzen Augenblick isoliert. Das Motiv der Einsamkeit, durchgeführt im Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Close-Up und Totale, dementiert die gängigen Vorstellungen von der Notwendigkeit der harmonischen Mannschaftsfügung, von der sozialintegrativen Modellhaftigkeit des Fußballs.
»Das Individuum überschreitet sein gemeinsames Sein, um es zu verwirklichen; man ist nicht Tormann oder Läufer, wie man Lohnarbeiter ist. Die Funktion als gemeinsames Sein ist unbestimmte Bestimmung«, heißt es in einer unter sog. Fußballintellektuellen nicht ungern zitierten Passage aus Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft (dt. Reinbek 1967). Und im weiteren sieht sich die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Zwang und Freiheit im Konzept der geglückten Vergesellschaftung (auf dem Platz) aufgehoben: »Wenn sich die praktische Spannung lokkert, ohne daß sich die Gruppe deshalb auflöst, so begreift das gemeinsame Individuum in der organisierten Gruppe seine Funktion als seine gemeinsame Besonderheit.«
Wo Joachim Kreck ebendieses Moment der dem Fußball idealiter immanenten Vermittlung von Individuum und Sozietät wenn nicht unterläuft, so doch bezweifelt, hebt Ror Wolfs zwei Jahre später, am 6. November 1975 im ZDF urgesendeter und 54 Minuten langer Kamerafilm Keep Out die unauflösliche Devianz des einzelnen hervor, indem er über einen Ausschnitt aus der Karriere des linken Außenstürmers Thomas Rohrbach berichtet, der von 1970 bis 1975 bei Eintracht Frankfurt angestellt war.
Spielerporträt, Psychogramm, Dokumentation – das alles mag Wolfs experimentelle Exkursion ins oder durchs Leben dieses Außenseiters sein. Sie ist darüber hinaus der Versuch, mit Worten und bewegten Bildern in das Seelenleben des Fußballs einzudringen – oder die Grenzen zu erkunden, an denen ein formiertes, eingesperrtes, indes nicht gänzlich vom Betrieb unterworfenes Individuum schließlich zu zerschellen droht.
Rohrbach agiert in Keep Out auch als Schauspieler und als authentischer Erzähler in eigener Sache. »Bring mich doch endlich hier weg«, hört man den begnadeten, in seiner letzten Saison am Riederwald weitgehend zum Bankdrükker degradierten Dribbler gegen Ende resigniert aus dem Off sagen. »Es gibt nur eine Möglichkeit – verkaufen. Ich werd’ nicht mehr benötigt.« Das ist die Quintessenz eines Berufslebens. Trainer Dietrich Weise gibt »diesen Typen« – »Leuten, die aus der Eigenart nicht herauskönnen« – »kaum noch Chancen, im Leistungsfußball eine Rolle zu spielen«. Der »Anforderung von der Öffentlichkeit«, wie es einer der von Ror Wolf auch in seinen Fußballhörspielen verewigten Kiebitze ausdrückt, der Doktrin, sich innerhalb der »Mannschaft als geschlossener Einheit« zu assimilieren, hat der Pastorensohn aus Bad Hersfeld nicht Genüge geleistet.
Und trotzdem: Rohrbach beharrt noch angesichts seiner Zurückstufung darauf, »in den Kreis der gutbezahlten Spieler« aufgenommen zu werden. Wolf gesellt dieses Statement, die Linearität filmischer Erzählungen suspendierend, im Finale seines Abgesangs auf einen im Konkurrenzkampf Unterlegenen zu surreal anmutenden Bildern eines alptraumartigen Panoptikums aus Tierpräparaten. Die Ereignisse rund um Ball und Mensch kulminieren in der Erstarrung, der Ausweglosigkeit. »Ich hab’ mich draußen gefühlt.«
In selten offener Weise hat sich Ror Wolf zu den Intentionen geäußert, die er mit Keep Out zu verfolgen gedachte. »Daß der Fußball gegenwärtig einer der wichtigsten Bereiche der Unterhaltungsindustrie ist, muß kaum mehr diskutiert werden«, merkte er an. »Ein paar Funktionäre, die in ihren Festreden diese Monumentalshow noch immer in die Weihezone eines keuschen Idealismus hineinreden wollen, stören da nicht. Auch sie wissen, was gespielt wird. Der Interessenzuwachs aus Gruppen, die vorher im weitesten Sinn sportuninteressiert waren, ist unverkennbar. Er hat sich vor allem durchs Fernsehen ergeben. Die Ballstars sind erst Stars geworden durch das Fernsehen, durch ihre genormten Auftritte, durch die gebügelten Worte […]. Der Film beginnt dort, wo die unter Zeitdruck entstandenen Spielberichte aufhören […]. Das zentrale Thema des Films ist nicht etwa der Alltag eines Fußballspielers, sondern die gesellschaftlich-soziologische Situation