Der Antichrist. Friedrich Nietzsche
Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit… Man hatte aus der Realität eine „Scheinbarkeit“ gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht… Der Erfolg Kant’s ist bloß ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit – –
11.
Ein Wort noch gegen Kant als Moralist. Eine Tugend muss unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andren Sinne ist sie bloß eine Gefahr. Was nicht unser Leben bedingt, schadet ihm: eine Tugend bloß aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff „Tugend“, wie Kant es wollte, ist schädlich. Die „Tugend“, die „Pflicht“, das „Gute an sich“, das Gute mit dem Charackter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit – Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachstumsgesetzen geboten: dass jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zu Grunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als jede „unpersönliche“ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. – Dass man den kategorischen Imperativ Kant’s nicht als lebensgefährlich empfunden hat! … Der Theologen-Instinkt allein nahm ihn in Schutz! – Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand … Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der „Pflicht“? Es ist geradezu das Rezept zur décadence, selbst zum Idiotismus… Kant wurde Idiot. – Und das war der Zeitgenosse Goethe’s! Dies Verhängnis von Spinne galt als der deutsche Philosoph, – gilt es noch! … Ich hüte mich zu sagen, was ich von den Deutschen denke… Hat Kant nicht in der französischen Revolution den Übergang aus der unorganischen Form des Staats in die organische gesehen? Hat er sich nicht gefragt, ob es eine Begebenheit gibt, die gar nicht anders erklärt werden könne als durch eine moralische Anlage der Menschheit, so dass mit ihr, Ein für alle Mal, die „Tendenz der Menschheit zum Guten“ bewiesen sei? Antwort Kant’s: „das ist die Revolution.“ Der fehlgreifende Instinkt in Allem und Jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie – das ist Kant! –
12.
Ich nehme ein paar Skeptiker bei Seite, den anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie: aber der Rest kennt die ersten Forderungen der intellektuellen Rechtschaffenheit nicht. Sie machen es allesamt wie die Weiblein, alle diese großen Schwärmer und Wundertiere, – sie halten die „schönen Gefühle“ bereits für Argumente, den „gehobenen Busen“ für einen Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung für ein Kriterium der Wahrheit. Zuletzt hat noch Kant, in „deutscher“ Unschuld, diese Form der Korruption, diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter den Begriff „praktische Vernunft“ zu verwissenschaftlichen versucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabene Forderung „du sollst“ laut wird. Erwägt man, dass bei fast allen Völkern der Philosoph nur die Weiterentwicklung des priesterlichen Typus ist, so überrascht dieses Erbstück des Priesters, die Falschmünzerei vor sich selbst, nicht mehr. Wenn man heilige Aufgaben hat, zum Beispiel die Menschen zu bessern, zu retten, zu erlösen, wenn man die Gottheit im Busen trägt, Mundstück jenseitiger Imperative ist, so steht man mit einer solchen Mission bereits außerhalb aller bloß verstandesmäßigen Wertungen, – selbst schon geheiligt durch eine solche Aufgabe, selbst schon der Typus einer höheren Ordnung! … Was geht einen Priester die Wissenschaft an! Er steht zu hoch dafür! – Und der Priester hat bisher geherrscht! – Er bestimmte den Begriff „wahr“ und „unwahr“! …
13.
Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine „Umwertung aller Werte“, eine leibhafte Kriegs- und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von „wahr“ und „unwahr“. Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden; aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin war man aus dem Verkehre mit „honnetten“ Menschen ausgeschlossen, – man galt als „Feind Gottes“, als Verächter der Wahrheit, als „Besessener“. Als wissenschaftlicher Charackter war man Tschandala… Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt – ihren Begriff von dem, was Wahrheit sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll: jedes „du sollst“ war bisher gegen uns gerichtet… Unsre Objekte, unsre Praktiken, unsre stille vorsichtige misstrauische Art – alles schien ihr vollkommen unwürdig und verächtlich. – Zuletzt dürfte man, mit einiger Billigkeit, sich fragen, ob es nicht eigentlich ein ästhetischer Geschmack war, was die Menschheit in so langer Blindheit gehalten hat: sie verlangte von der Wahrheit einen pittoresken Effekt, sie verlangte insgleichen vom Erkennenden, dass er stark auf die Sinne wirke. Unsre Bescheidenheit ging ihr am längsten wider den Geschmack… Oh wie sie das errieten, diese Truthähne Gottes – –
14.
Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidener geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom „Geist“, von der „Gottheit“ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andererseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit… Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das missratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste! – Was die Tiere betrifft, so hat zuerst Descartes, mit verehrungswürdiger Kühnheit, den Gedanken gewagt, das Tier als machina zu verstehn: unsre ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes. Auch stellen wir logischer Weise den Menschen nicht bei Seite, wie noch Descartes tat: was überhaupt heute vom Menschen begriffen ist, geht genau so weit, als er machinal begriffen ist. Ehedem gab man dem Menschen, als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung, den „freien Willen“: heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, dass darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf. Das alte Wort „Wille“ dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die notwendig auf eine Menge teils widersprechender, teils zusammenstimmender Reize folgt: – der Wille „wirkt“ nicht mehr, „bewegt“ nicht mehr… Ehemals sah man im Bewusstsein des Menschen, im „Geist“, den Beweis seiner höheren Abkunft, seiner Göttlichkeit; um den Menschen zu vollenden, riet man ihm an, nach der Art der Schildkröte die Sinne in sich hineinzuziehen, den Verkehr mit dem Irdischen einzustellen, die sterbliche Hülle abzutun: dann blieb die Hauptsache von ihm zurück, der „reine Geist“. Wir haben uns auch hierüber besser besonnen: das Bewusstwerden, der „Geist“ gilt uns gerade als Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnötig viel Nervenkraft verbraucht wird, – wir leugnen, dass irgend etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch bewusst gemacht wird. Der „reine Geist“ ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die „sterbliche Hülle“, so verrechnen wir uns – weiter nichts! …
15.
Weder die Moral noch die Religion berühren sich im Christentume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen („Gott“, „Seele“, „Ich“, „Geist“, „der freie Wille“ – oder auch „der unfreie“); lauter imaginäre Wirkungen („Sünde“, „Erlösung“, „Gnade“, „Strafe“,