Die Katze. Mark Fuehrhand
stapelten sich neben ihrem Computer, und Paula irrte maunzend zwischen all der schmutzigen Wäsche umher, die sich im Zimmer verteilte. Resigniert rieb Lisa sich die Augen und suchte im Kühlschrank nach Katzenfutter. Dabei kam ihr der Gedanke, dass eine Pause ihr gut tun würde, dass sie frische Luft gebrauchen konnte, um neue Gedanken zu fassen.
Sie horchte in sich hinein. Die Überfälle hatten sie verändert. Monatelang hatte sie sich in ihrer Wohnung vergraben und wollte, ja konnte niemanden sehen. Aber jetzt regte sich das zaghafte Bedürfnis hinauszugehen. Unsicher schnappte sie sich den Wohnungsschlüssel.
Draußen war es dunkel, wahrscheinlich war Mitternacht schon überschritten. Die Luft war klar und feucht, es hatte geregnet. Geräusche kamen noch aus der kleinen Kneipe an der Ecke. Lisa war alles andere als gesellig, trotzdem zog es sie dort hin; sie wusste nicht genau, warum. Ihre Erwartung, kaum noch Gäste vorzufinden, wurde bestätigt; die meisten Leute waren bereits nach Hause gegangen. Lisa setzte sich an den Tresen und bestellte sich ein Geripptes1. Dann starrte sie auf das Hochprozentige vor dem Spiegelschrank. Sie fing an, die Flaschen zu zählen, und verlor sich dabei. Sie träumte von dunklen Fluren, an deren Ende sich Männer kunstvoll selbst fesselten. Sie begann, an einem Bierdeckel herumzupulen, und träumte von kleinen Gemeinheiten …
»Sie sind wohl heute nicht von dieser Welt?«, vernahm sie eine Stimme.
Der Mann, der sich neben sie gesetzt hatte, sah unauffällig aus. Manche würden ihn vielleicht attraktiv finden. Er sah sie freundlich an.
»Nein, heute nicht«, antwortete sie, um Worte ringend. Sie hatte lange mit niemandem mehr gesprochen. »Und sonst auch nicht. Ich bin oft mit den Gedanken woanders.«
»Wohin wir gehen, gehen wir zuerst in unserer Phantasie«, sagte er.
»Da ist was dran.«
»Ich bin Mark«, stellte er sich vor.
»Hallo, Mark!«, sagte sie begeisterungslos, ohne sich ebenfalls vor-zustellen. Es schien ihn nicht zu stören. Er besaß die Fähigkeit, an-genehm zu plaudern, ihm fiel viel ein, und ein angedeutetes Lächeln genügte ihm als Ermunterung zum Weiterplaudern. Man musste sich als Zuhörerin nicht besonders anstrengen, man musste nicht einmal zuhören. Während er plauderte, überlegte Lisa, wie sie ihn dazu bringen konnte, sich selbst zu fesseln, wie sie dann in sein Haus eindringen würde, welche kleinen Gemeinheiten sie ihm antun konnte – und wie sie genüsslich sein Konto plündern würde. Verdammt, wo sollte das noch enden? Sie bekam es nicht mehr aus dem Kopf. War sie ein Einbruchs-Junkie geworden?
»Das finden Sie doch auch?«, hörte sie ihn sagen. Ups. Jetzt hatte er doch mal etwas gefragt. Keine Ahnung, was.
»Selbstverständlich!«, pflichtete sie ihm bei, zu was auch immer.
»Seit SM im Mainstream angekommen ist, feiern wir ständig Fasching. Jetzt gehen die Leute schon in Lack und Leder zur Arbeit. Und diese SM-Parties nehmen auch überhand!«
»Ja, überhand«, pflichtete sie bei und musste ganz furchtbar gähnen. Sie war unglaublich müde und würde gleich auf dem Tresen zusammenbrechen.
Bevor das geschehen konnte, nahm sie seine Telefonnummer und ging.
Zu Hause warf sie seinen Zettel in den überquellenden Papierkorb und setzte sich wieder an den Computer, wo sie nach wenigen Minuten auf der Tastatur einschlief.
Das Jagdfieber hatte sie wieder gepackt. Die Suchbegriffe rauschten wieder über ihren Bildschirm. Wann würde sich der ersehnte nächste Kunde zu erkennen geben?
Es hatte lange gedauert, den Sniffer wieder flott zu bekommen. Am Ende hatte Lisa eine detaillierte Anleitung auf einer Hackerseite im Netz gefunden, die sehr hilfreich war. Durch Adressschwindeleien im Internet-Protokoll gelang es ihr, die neuen Verteiler zu übertölpeln. Wenn sie schneller auf Anfragen antwortete als die Verteiler, bekam sie die Datenpakete zuerst zugesandt. So konnte sie die Daten analysieren und danach an die Verteiler weiterleiten, als wäre nichts geschehen.
Als die technischen Probleme endlich gelöst waren, passten die Suchbegriffe nicht. Lisas Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt …
Es dauerte noch zwei Wochen, bis halbwegs passende Suchbegriffe kamen. Der neue Kunde hatte zwar Handschellen und Seile bestellt, aber kein Zeitschloss und auch keinen Knebel. Trotzdem wollte sie nicht länger warten; sie war so ausgehungert nach neuen Abenteuern, dass sie das Risiko einging und alles vorbereitete. Sie steckte einen eigenen Knebel ein, um notfalls das zu vollenden, was der Kunde versäumt hatte. Dann ging es wieder los, und mit der üblichen Mischung aus Glücksgefühl und Panikanfall war sie in sein Haus eingedrungen.
Nun stand sie in seinem Zimmer und fand sich mit einer dramatischen Situation konfrontiert, die sie nicht auf Anhieb durchschaute. Sie sah sich die Merkwürdigkeiten noch einmal an, die der neue Kunde überall verteilt hatte: Auf einem Schreibtisch stand ein altmodischer analoger Wecker mit Zeigern. Neben dem Wecker lag ein Mikrophon, das an ein Notebook angeschlossen war. Auf dem Boden waren kurvenreich Dominosteine aufgestellt. Zwei Reihen schienen vor einem Regal zu beginnen. Weiter oben in dem Regal lag ein Handy, daneben ein paar Murmeln.
Mitten in all diesen Merkwürdigkeiten saß der Kunde auf einem Sessel und sah Lisa gefasst und irgendwie unbeteiligt an. Er war nur leicht bekleidet, mit einem T-Shirt und einer kurzen Hose. Dafür hatte er beim Festbinden ganze Arbeit geleistet. Mit unglaublich vielen Seilen hatte er seinen Körper eng an die Rückenlehne gefesselt und seine Beine an die Stuhlbeine. Auch den rechten Arm hatte er mit viel Seil an die rechte Armlehne gebunden. Mit dem anderen Arm hatte er es danach naturgemäß schwerer gehabt. Er hatte links dann noch eine Handschelle dazu genommen, um sich sicher festzusetzen. Über seiner Hand schwebte ein mit einem Stein beschwerter Schlüssel an einem Seil, das über eine Rolle an der Decke wieder zum Boden ging, wo es an einem Topf voller Wasser festgemacht war, der auf einem kleinen Elektrokocher stand. Ach ja, dachte Lisa, das könnte gehen: Wenn der letzte Dominostein auf die Mausefalle fällt, schnappt die zu und schaltet damit den Kocher ein, der das Wasser verkocht, woraufhin der Topf leichter wird und der Stein den Schlüssel langsam hinunterzieht, so dass der Bastler ihn ergreifen und sich losmachen kann. Nicht gerade simpel gedacht, aber originell.
Der Bastler hatte sich nun doch selbst geknebelt und war dabei rigoros vorgegangen. Was immer er sich in den Mund gesteckt hatte, konnte man nicht mehr sehen, weil es von einer dicken Schicht Paketklebeband bedeckt war. Das Klebeband hatte er sich hinten um den Kopf gewickelt, so dass es bombenfest saß. Beim Abziehen würde es übel an seinen Haaren ziepen. Lisa bemerkte, dass er sich auch noch ein Seil mehrmals um den Hals geschlungen hatte. Dieses Seil verlief zu einer anderen Rolle an der Decke und kam von dort wieder herunter zu einem Boxsack, der auf einem Küchenstuhl stand. An der Lehne dieses Stuhls war ein Seil befestigt, das über eine Elektrowinde eingeholt werden konnte. Selbige wurde wiederum über eine Lichtschranke von Dominosteinen angesteuert.
Lisa war verwirrt. Sie versuchte, diese bedenkliche Konstruktion zu verstehen. Der Mann sah sie währenddessen an und schien nicht besonders aufgeregt zu sein. Soweit Lisa es begriff, hatte diese Ereigniskette zwei mögliche Ausgänge. Ausgang a) nannte sie »Himmel«: Der Mann bekam den Schlüssel und konnte sich befreien. Ausgang b) war dementsprechend die Hölle: Der Stuhl mit dem Boxsack wurde umgeworfen, und die Schlinge um den Hals des Mannes würde sich zuziehen.
Sie selbst wäre bei diesen Alternativen erheblich nervöser als der Mann – um nicht zu sagen, es würde ihr Panik bereiten. Aber gut, jeder solle ja nach eigener Façon selig werden, hatte angeblich schon der alte Preußenkönig gesagt.
Lisa war auf jeden Fall gespannt auf den Ausgang dieses Experiments. Sie schnappte sich einen Stuhl, der weiter hinten im Raum stand, und setzte sich neben den Bastler, um ihm beim Warten auf den Wecker Gesellschaft zu leisten.
Mit vorrückender Stunde wurde der Bastler unruhiger. Lisa bemerkte, dass er sich ein wenig in den Seilen wand. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die sehr enge Fesselung unbequem war. Da der Wecker noch eine Weile brauchte, stand sie kurz auf, um sich in der Küche einen Milchkaffee zu machen. Leider konnte sie den Bastler nicht fragen, ob er Kakaostreusel hatte. Sie suchte kurz in den Küchenschränken, blieb aber erfolglos. Dann ging sie mit der Tasse zurück, um dem Bastler weiter