Kontrolle. Frank Westermann
Ich glaubte, dies war das Schlimmste, was die menschliche »Zivilisation« bisher durchgemacht hatte. Und das Übelste an der Sache war, dass man diesem Chaos, diesem gigantischen Unterdrückungsapparat nicht entkommen konnte. Früher hatte es immer Auswege gegeben, Fluchtmöglichkeiten, die von Minderheiten, Unterdrückten und Außenseitern mehr oder weniger genutzt wurden.
Ich hatte einige Bücher gelesen, verbotene natürlich, in denen Menschen in »demokratischere« Länder ausreisten, sich in die Natur zurückzogen oder im Untergrund in politischen Organisationen gegen Terrorregime kämpften.
Nichts von all dem war hier möglich. Nach dem letzten kurzen und schrecklichen Krieg waren nicht viele Menschen übrig geblieben - gemessen an der Bevölkerungsdichte, die vor dem großen Knall herrschte. Kaum hatten die Wissenschaftler und Politiker, die Bürokraten und Militaristen die ultimate Bombe entdeckt, gab es für sie nichts Eiligeres zu tun, als sie auch anzuwenden. Ein Bereinigungskrieg sollte wieder Platz für Investitionen machen. Der Vorteil: Die Bombe hinterließ keine Radioaktivität. Das Sterben war schmerzlos schnell, der Wirkungskreis enorm. Gegenden vom Ausmaß kleinerer Länder versanken in Sekundenschnelle in Schutt und Asche, Überlebende gab es kaum.
Der Krieg dauerte nur ein paar Tage. Dann wurde auch dem letzten hirnverbrannten, wahnsinnigen Faschisten klar, dass es keinen Zweck hatte, alle Menschen auszurotten. Denn über wen hätten sie dann das Netz der Ausbeutung auswerfen können?
Die Wirtschaft, die Technologie und der Verwaltungsapparat hatten durch den Krieg wenig Schaden genommen und erholten sich schnell, mit Ausnahme der »unbedeutenden« Staaten, die gleich völlig von der Landkarte ausradiert worden waren. Die neuen/alten Machthaber verstanden es, die alte Wirtschaftsordnung, das alte Gesellschaftssystem fast übergangslos fortzusetzen - noch perfekter und brutaler, als es vorher schon gewesen war. Sie hatten es dadurch leicht, weil sie während des Krieges alle Widerstandsgruppen systematisch zerschlagen hatten.
Das Leben jetzt konnte man entfernt mit der Welt, die Orwell in 1984 beschrieb, vergleichen, obwohl es gravierende Unterschiede gab. Die Überwachung und das gesamte Sicherheitssystem der Stadt jedenfalls funktionierten genauso, nur unauffälliger.
1984 stand natürlich auch auf der Liste der staatszersetzenden Bücher, und ich hatte Glück gehabt, dass ich wenigstens Bruchstücke hatte lesen können. Einem neutralen Beobachter wäre dort die Unterdrückung sofort aufgefallen, während die Stadt den Eindruck vermittelte, als lebten ihre Bewohner in Freiheit.
In der Tat wurde niemand gezwungen, einen erniedrigenden, dreckigen 10-Stunden-Tag in einer gigantischen Fabrik zu arbeiten. Doch dann gab's auch kein Geld, und damit auch nicht all die hübschen kleinen und großen Sachen, die man sich davon kaufen konnte. Und was anderes als kaufen und Geld ausgeben gab es nun mal nicht. Höchstens das Konsumieren des täglichen Tri-Di-Programms.
Das Leben stellte sich nicht so eintönig grau dar wie bei Orwell - es war viel bunter, schreiender. Und somit auch weniger leicht zu durchschauen. Von Kind auf wurden jedem eigene, kritische Gedanken oder Formen von Eigeninitiative ausgetrieben. Geschichtsfälschung und Medien spielten dabei eine große Rolle. So wurde praktisch das Leben vorprogrammiert, obwohl es aussah, als könnte jeder tun und lassen, was er wollte. Nur wenige hatten die Möglichkeit,diese Fassade zu durchschauen, sei es durch Zufall oder günstige Umstände.
Wer kam schon gegen eine sich überschlagende Vergnügungsindustrie, eine an allen Ecken ins Auge stechende Werbung und Mode, ein ewiges Durcheinander von Konkurrenz, Neid, Hass und Aggressionen an? Dies alles war von den Regs offiziell sanktioniert, Auswüchse und Widerstand wurden ohne Rücksicht restlos ausgetilgt.
Auswege gab es nicht. Hier, im ehemaligen Südengland, existierte nur diese einzige riesige Stadt - rundherum erstreckte sich Steinwüste,Unfruchtbarkeit und Leblosigkeit. Allein die Regs und ihre Vertrauten hielten Kontakt zu anderen Städten und Erdteilen. Und es gab meines Wissens keinen Flecken auf der Welt, der sich wesentlich von dem beschriebenen Bild unterschied. Und falls dies nur Propaganda war, konnte man es nicht überprüfen.
Bei all diesen immer wiederkehrenden Gedanken hatte ich fast im Traum die besagte Kneipe erreicht. Die Flügel der breiten Tür standen weit offen, und aus dem knallgrünen Gebäude drang ein Schwall von lauten Worten und beißendem Qualm.
Ich spähte erst mal vorsichtig hinein, um mich an das Dämmerlicht und die Rauchschwaden zu gewöhnen. Es stank nach Drogen, Schweiß und Zigaretten. Ich quetschte mich durch einen Wust von gestikulierenden, schreienden Menschen, Stühlen, Tischen und Glücksspielautomaten. Irgendjemand drückte seine Zigarette fast in mein Auge, ein anderer leerte sein Bier auf meiner Hose aus. Schimpfend und schwitzend entdeckte ich endlich im Hintergrund an einem kleinen Tisch einige bekannte Gesichter und schlängelte mich zu ihnen durch.
»Hey, Speedy!« rief jemand, und ich erkannte Yate, einen schon etwas älteren Saufbruder.
«Hallo!«, sagte ich müde und schob mich mühsam neben ihn auf die abgeschabte, rote Plastikbank.
Ich stellte den Beutel zwischen meine Füße - aus Vorsicht, falls jemand die Absicht hatte, ihn unauffällig mitzunehmen.
Die Mechano-Bedienung brachte mir ein großes, gepanschtes Bier, das mich erst mal einige Zeit in Anspruch nahm.
»Wo hast du dich rumgetrieben?«, fragte Cab.
Er beugte sich zu mir herüber, sodass ich sein tätowiertes Gesicht bald mit der Nase berührte.
»Ich war ne Zeit draußen.«
»Was?! Hast du ne Macke? Was hast du denn da gesucht?«
»Musik gehört, gelesen, nachgedacht …«
»Schön blöd!«, meckerte Yate. »Hast Glück gehabt, dass du mit heilen Knochen wieder hier gelandet bist.«
Das »Gespräch« fing an, mich total zu nerven. Aber welche Leute hatte ich hier sonst erwartet? Ich hielt also den Mund und versuchte mich etwas zu entspannen. Doch die ganze Hektik hier ließ auch das nicht zu. Yate und Cab beschäftigten sich wieder mit sich selbst, ihren Motorrädern, Glücksscheinen, Tri-Di-Filmen und Doog-Stangen.
Dann hielt mir jemand von hinten die Augen zu.
»Lucky?«, riet ich vorsichtig.
Er lachte leise, zog mich hoch und nahm mich in die Arme. Und plötzlich fiel das alles von mir ab, die Unsicherheit, die Angst, die Traurigkeit und die Müdigkeit. Ich konnte mich nur noch freuen, brachte sogar ein Lachen zustande. Ich hielt ihn krampfhaft fest und versank beinahe in seiner Umarmung. Dann drängte sich jemand anders an uns. Flie, die große, warme Flie!
»Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie leise und küsste mich auf die Nase.
»Ich freu mich auch. Aber dass ihr hier seid …«
»Reiner Zufall«, grinste Lucky. »Wir wollten nur ein paar Knollen X abstauben. War aber nix.«
»Kommst du mit zu uns?«, fragte Flie spontan.
»Sofort.«
Ich spülte den Rest vom Bier hinunter und folgte den beiden.
Zurück ließ ich versoffene, langweilige, angepasste Typen wie Yate und Cab, aber auch Stucker, der still in einer Ecke saß, sodass ich ihn erst gar nicht bemerkt hatte und mich mit traurigen Augen musterte. Ich konnte es nicht ändern. Ein Gespräch mit ihm lag im Moment für mich nicht an.
An der Tür schloss sich uns noch eine Frau an, die auch nur mal reingeschaut hatte. Ich kannte sie nicht. Sie schien aber eine Freundin von Lucky und Flie zu sein.
Es war ziemlich spät geworden oder auch nicht - wie man's nimmt. Trotzdem war es dank der überwältigenden Beleuchtung auf den Straßen taghell. Wir versuchten, so gut es ging, dem Trubel auszuweichen und nahmen dafür auch einige Umwege in Kauf.
Flie und die andere Frau unterhielten sich lebhaft. während Lucky und ich schweigend nebeneinander hergingen.
Ich wunderte mich, dass er so ruhig war, denn gewöhnlich alberte er meist etwas herum