Das Schweigen der Familie. Ben Faridi
Portugals im Atlantik. Dabei war doch schon die Distanz zwischen den Bewohnern der Inseln und den Kontinental-Portugiesen berüchtigt. Er machte sich auf keinen freundlichen Empfang gefasst. Lustlos blätterte er weiter zu den wenigen bisherigen Fakten. Francisco Amaral war Landwirt, wie man im Amtsdeutsch sagte. Nun ja, das war in Corvo jeder irgendwie. Die Insel ist winzig. Selbstversorgung gehört zum Standard. Francisco wurde vor 55 Jahren als zweites Kind von Hernandez Amaral und Maria Ganao geboren. Der erstgeborene Sohn heißt Pão Amaral. Der tote Francisco war seit zwanzig Jahren mit Maria Grazia verheiratet. Sie hatten vier Kinder von acht bis vierzehn Jahren. Baptista versuchte sich etwas Auffälliges an diesem Lebenslauf zu merken, aber im Bericht gab es nichts.
Schließlich sah er sich den unangenehmsten Teil jedes Dossiers an: die Beschreibung der Leiche, der dazugehörigen Umstände und das forensische Gutachten. Der Tote wurde von der Betreiberin eines Restaurants gefunden, die das Putzwasser in das nahe gelegene Hafenbecken leerte. Es gab ein eigenartiges Geräusch, als sie das Wasser wegkippte. Daher beugte sie sich über den Quai, und stieß einen lauten Schrei aus. Zwei Fischer kamen angerannt und hievten mit Haken und Netzen den aufgedunsenen, scheinbar tonnenschweren Körper aus dem Hafenbecken. Als die Drei dann ihren Inselbewohner Francisco erkannten, rannten sie entsetzt zu dessen Frau Maria und alarmierten den Polizisten. Der forensische Bericht zeigte die üblichen schrecklichen Fotos. Baptista blätterte im Flugzeug schnell darüber hinweg. Er las schließlich, dass der Tod durch vier Messerstiche in den Rücken eingetreten war. Der Schädel war zuvor durch einen stumpfen Gegenstand verletzt worden. Zwischen zehn und zwölf Stunden hatte der Tote im Wasser gelegen, bevor er gefunden wurde. Franciscos Tod trat damit am Mittwoch gegen Mitternacht ein, vor sechs Tagen also. Baptista schlug das Dossier zu und packte es weg.
Da Silva wachte auf und begann Baptista noch ein wenig auszufragen. »Wo waren wir vorhin stehen geblieben? Sie wollten erzählen, wo die Reise hingeht.« »Ich bleibe nicht in São Miguel, sondern reise morgen früh nach Corvo weiter.« Da Silva zuckte merklich mit der Augenbraue. »Nach Corvo ausgerechnet. Was für eine Dienstreise kann man denn nach Corvo machen? Schon in Flores scheint das Ende der Welt erreicht. Wenn man nach Corvo will, überschreitet man die Grenze. Meine Großmutter sagte immer, der Vulkan dort führe direkt in die Hölle.« »So ein Unsinn«, wachte Toledo auf. »Belästigen Sie doch den Herren nicht mit diesem Aberglauben.« »Wieso Aberglauben? In Corvo hat der Teufel persönlich letzte Woche eine Leiche ausgespuckt.« Alle drei waren kurz still. »Alle denken, eine so kleine Insel könne ja wohl nur das Paradies sein. Ich bin auf Flores aufgewachsen, nur zehn Meilen entfernt von Corvo, und ich sage Ihnen, dass das die Hölle ist. Jeder beobachtet jeden, es gibt kein Entrinnen. Meine Geschwister und ich haben uns bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub gemacht.« Baptista schaute da Silva interessiert an. »Aber nun ist es passiert: der erste Tote. Ein Wunder, dass es solange gedauert hat.« »Wie können Sie so etwas sagen?«, fuhr ihm Toledo dazwischen. »Ich fahre regelmäßig nach Corvo. Ich schwöre, dort leben die nettesten Menschen der Azoren, vielleicht auf diesem ganzen Planeten. Ob es ein Mord ist, steht doch noch gar nicht fest.« Die beiden ereiferten sich und vergaßen darüber, dass zwischen ihnen noch Baptista saß.
Das Flugzeug setzte zum Sinkflug an und landete, nicht ohne zuvor den Passagieren einen wunderschönen Ausblick auf São Miguel gewährt zu haben. Sogar Baptistas Herz öffnete sich. Im Gegensatz zu den anderen internationalen Flughäfen stiegen die Passagiere rasch aus und liefen unkompliziert über das Flugfeld zum Gebäude. Eines der vier Kofferbänder rumpelte los und Baptista nahm seinen zu schweren, alten Lederkoffer. Er konnte sich einfach nicht davon trennen. Damit hatte er seine ersten Reisen als Student gemacht. Man verabschiedete sich und Baptista stieg in ein Taxi ein, das ihn zügig zu seiner Pension in Ponta Delgada brachte, der Hauptstadt São Miguels. Es war früh am Abend. Morgen würde er zum Kommissariat und zum Leichenschauhaus gehen. Erst am späten Nachmittag würde die Maschine nach Corvo starten.
Dienstagabend, 11. Juni
»Boa tarde«, begrüßte er die Besitzerin. »Jao Baptista«, nannte er seinen Namen. »Ich hatte für eine Nacht reserviert.« »Herzlich Willkommen. Ich zeige Ihnen gleich Ihr Zimmer.« Sie führte ihn eine enge Treppe in den ersten Stock und öffnete eine quietschende Holztür. In dem kleinen Zimmer befand sich ein Bett, das mit einem schrecklich blau gemusterten Überzug bezogen war, und ein winziger Schreibtisch. »Es soll noch regnen«, gab ihm die Zimmerwirtin mit. »Eine gute Zeit für einen Galão nebenan.« Dann verschwand sie nach unten und hinterließ ihm einen kleinen Schlüssel mit einem riesigen Holzpflock. Ist das als Waffe gedacht, fragte sich Baptista unwirsch. Er wuchtete seinen Koffer auf das Bett, das sofort zu Ächzen und Stöhnen begann. Nur das Notwendigste für eine Nacht packte er aus. Dann zog er ein leichtes Baumwollhemd an und wollte losgehen. Sollte er einen Schirm mitnehmen, wie ihm die Zimmerwirtin geraten hatte? Draußen schien die Sonne. Ein Schirm war also unnötig, befand er. Er wollte lediglich einige Schritte am Hafen entlanggehen und ein leichtes Abendessen zu sich nehmen. Als er nach unten ging, war niemand am Empfangstisch. Er legte den schweren Schlüssel ab und trat vor die Tür.
Zum Hafen waren es rund zehn Fußminuten. Er atmete die frische Meeresluft ein und ging los. Ponta Delgada ist für Festlandsverhältnisse eine Kleinstadt mit 20.000 Einwohnern. Trotzdem kommt hier schnell das Gefühl einer Großstadt mit ihren Schaufenstern und Restaurants auf. Der Hafen bot einen wunderbaren Ausblick, obwohl die rostigen Hafenanlagen hässlich und bedrohlich wirkten. Sie hatten gegen den blauen Himmel, das Meer und die Stadt keine Chance, eine negative Wirkung zu verströmen. Baptista entschied sich, direkt im Hafen an der prachtvollen Avenida Infante Dom Henrique entlang zu gehen und durch die engen Gassen zurück. Dort würde er schon ein Restaurant finden. Nach einigen Minuten wurde es dunkel. Zunächst dachte er, die Abenddämmerung habe eingesetzt. Dann sah er jedoch große dunkle Wolken über sich. Schlagartig begann es intensiv zu regnen. Baptista war in Sekunden von oben bis unten durchnässt. Die meisten Leute falteten ihren Schirm auf oder zogen sich direkt in einen Unterstand zurück. Verärgert dachte er an die warnenden Worte der Zimmerwirtin. Während er zurück in die Pension eilte, verzogen sich schlagartig die Wolken und eine tropische Hitze machte das Atmen schwer. Baptista schwitzte und fror zugleich. Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Er würde sicher wieder krank werden.
Als er in nassen Kleidern die Treppen hoch lief, erntete er von der Besitzerin einen verachtenden Blick. Seinen ordentlich gepackten Koffer musste er nun doch auspacken. Die nassen Kleider hängte er notdürftig über einige Bügel, wohlwissend, dass sie in der hohen Luftfeuchtigkeit nicht trocknen würden. Er nahm ein Aspirin gegen die Kopfschmerzen. Inzwischen war es schon nach neun. Er ging wieder los und wollte beim nächsten Lokal etwas essen. Doch die ersten beiden waren voll besetzt. Es war Haupt-Speisezeit. Die Kellner gaben ihm zu verstehen, dass sie ohnehin in einer Stunde schließen würden und er daher nicht warten brauchte. In einem leichten Anfall von Panik – Baptista hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen – eilte er Richtung Innenstadt. Schließlich bekam er in einem schäbigen Lokal einen Platz. Er bestellte Fisch und bekam ein öliges Etwas, von dem er anfangs nicht wusste, ob es wirklich essbar war. Wie lieblos kann man denn mit einem Lebewesen umgehen, fragte er sich. Er trank einen mittelmäßigen Rotwein und wurde gegen zehn Uhr tatsächlich gedrängt zu zahlen. Ihm war schlecht von dem öligen Essen, als er nach Hause lief. Er legte sich ins Bett und schlief schnell ein. Mitten in der Nacht wurde er aus dem Schlaf gerissen. Er hatte Magenschmerzen. Unruhig lief er in dem kleinen Zimmer auf und ab. Irgendetwas schien ihm an dem Fall Amaral merkwürdig. Er nahm noch ein Aspirin und schlug das Dossier auf.
Im Flugzeug hatte er den forensischen Bericht nur rasch durchgeblättert. Doch etwas war ihm aufgefallen. Er sah sich die schrecklichen Fotos der aufgedunsenen Leiche an. Der Gerichtsmediziner sagte, dass der Tod durch vier Messerstiche im Rücken eingetreten war. Beim ersten Blättern hatte Baptista auf dem Rücken kleinere Flecken bemerkt, die in dem Bericht nicht erwähnt wurden. Er dachte, dass es sich um Blut handeln würde. Er bemühte sich im schemenhaften Licht der kleinen Zimmerlampe, das Bild genauer zu erkennen. Die Flecken erinnerten ihn an einen anderen Fall. Damals waren es Abdrücke einer brennenden Zigarette. Wurde Francisco vor seinem Tod gefoltert? Wie können Menschen nur so hassen, fragte er sich. Dann schlug er nochmals im Bericht nach, aber dort war über die Flecken nicht das Geringste zu lesen. Was für eine Schlampigkeit. Oder Absicht. Er begann zu husten. Die Lungenentzündung machte sich wieder bemerkbar. Angeekelt