Still. Zoran Drvenkar
habe ich meine Stelle in Steglitz aufgegeben. Die neue Schule liegt in Köpenick, sie ist klein, privat, und niemand zweifelt die Existenz von Mika Stellar an. Meine Identität wird jeder Nachforschung standhalten. Ich bin mir sicher, Achim hat mich längst unter die Lupe genommen und weiß, wo ich wohne. Ich bin jetzt ein Teil ihres Lebens. Es gibt keine Geheimnisse.
Nach dem Essen schaltet Achim einen von diesen Gasheizstrahler an, und wir setzen uns auf die Terrasse, trinken Cognac und schauen auf den verschneiten Garten. Achim raucht Zigarre, seine rechte Gesichtshälfte liegt im Schatten. Er wirkt wie ein zufriedener Arbeiter, der den Feierabend genießt. Jeden Moment wird er mir erzählen, wie sie zusammenkamen. Ich weiß, daß er mit zum Urgestein gehört. Eine Gruppe von Männern fand sich. Das ist der Anfang.
– Nichts ist so, wie du denkst, sagt Achim.
Ich denke nicht, ich höre nur zu, er wartet, daß ich frage, also frage ich, was das heißt.
– Das heißt, es geht nicht einfach um Sex, antwortet er.
Ich atme tief ein, irgendwas stimmt nicht, und ich weiß nicht, was es ist. Achim dreht die Asche von der Zigarre am Rand des Aschenbechers ab. Es fühlt sich an wie eine Falle. Was für eine Reaktion erwartet er?
Es geht nicht einfach um Sex.
Wie soll ich darauf nur reagieren?
– Nicht? sage ich schwach.
Er lächelt, mein verwirrter Gesichtsausdruck amüsiert ihn. Er betrachtet mich, als wäre ich sechzehn Jahre alt und hätte nur eines im Sinn.
– Sex hat damit wenig zu tun, Mika.
– Um was geht es dann?
Seine Antwort ist knapp und präzise und könnte aus meinem Repertoire stammen – ein Wort wie ein Flußkiesel, der vom Wasser glattgerieben wurde. Keine Kanten, keine Ecken.
– Unschuld, sagt er, Es geht um Unschuld.
SIE
Sie sind unantastbar. Niemand spricht öffentlich über sie, der Respekt läßt die Leute schweigen. Über die Jahrzehnte hinweg sind sie gewachsen, und jedes Wachstum fordert einen Tribut. Geschichten sickern durch, Theorien und Mutmaßungen breiten sich aus.
Für viele sind sie ein Mythos, aber davon halten sie selbst nichts, denn sie sind real, und alles was real ist, sollte nicht mystifiziert, sondern respektiert werden. Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Deutschlands hinab. Sie wuchsen während des Ersten Weltkrieges zusammen, und seitdem ist ihre Gemeinschaft unzertrennlich. Sie wurden von ihren Vätern zu dem gemacht, was sie jetzt sind, weil sie überleben sollten. Disziplin hält sie zusammen, Tradition verbindet und macht sie stark, der Winter läßt sie jagen.
Wenn sie im Winter zusammenkommen, endet die Kommunikation mit der Außenwelt. Sie sind in diesen Zeiten unerreichbar. Ihr Fokus richtet sich auf den winzigen Kosmos, der aus einem Stück Land und einer Hütte besteht. Sobald der Winter sich aber seinem Ende nähert, löst sich der Kosmos auf und sie kehren in das normale Leben zurück.
Und planen, und bereiten sich auf den nächsten Winter vor.
Während der Jagd sind sie immer zu viert, aber ihre Plätze werden regelmäßig neu besetzt. So wachsen sie langsam, aber stetig. In bestimmten Intervallen öffnen sie sich und suchen Mitglieder. Das alte Blut muß durch frisches Blut ausgetauscht werden. Für jeden, der geht, kommt ein neuer hinzu. Dafür öffnen sie ihre Türen, und wer einmal durch diese Türen getreten ist, der gehört zu ihnen. Es gibt kein Zurück. Das normale Leben endet, das wahre Leben beginnt.
Ihnen ist bewußt, daß alles, was in unseren Zeiten geschieht, genau beobachtet wird. Sie sind keine Hinterwäldler, sie kennen die neuesten Technologien und nutzen sie, aber so sehr sie sich auch Mühe geben, es ist ihnen unmöglich, alle ihre Spuren zu verwischen. Wer sucht, der findet. Und da gibt es die Neider, und da gibt es die Bewunderer, und da gibt es die Leute, die sie zu kopieren versuchen und nichts wissen von dem Hunger, der sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt sind. Und schließlich sind da noch die, die versuchen, ihnen auf die Spur zu kommen.
Es ist nicht so, daß sie sie fürchten.
Es ist eher so, daß es sie fasziniert, wie jemand auf die Idee kommen kann, den Jäger zu jagen.
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