Die Marokko-Show. Jeremias Schulthess
die allgemeine Ausgangslage des deutschen Kaiserreichs und die Marokkokrise als historisches Ereignis zu skizzieren. Insbesondere die Frage, wie das Vorgehen des Auswärtigen Amtes dargestellt und von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, steht dabei im Vordergrund.
In der Forschungsliteratur ist die zweite Marokkokrise unter anderem von Emily Oncken minutiös untersucht worden.4 Zur Person Kiderlen-Wächters ist von Ralf Forsbach eine einschlägige Biografie erschienen, die die Marokko-Politik des Staatssekretärs sehr ausführlich und treffend beschreibt.5 Daneben sind ältere Forschungsbeiträge, wie die von Fritz Fischer, bis heute von Bedeutung – sie stellen die zweite Marokkokrise in einen größeren Kontext, einer imperialistischen Außenpolitik des Deutschen Reichs.6
Die Reihe „Geschichte kompakt“ beinhaltet – neben der komprimierten und auf dem aktuellen Forschungsstand beruhenden Darstellung relevanter Themen der Geschichte – ausgewählte Quellen sowie eine Sammlung der wichtigsten Literatur. Ergänzt wird die Reihe durch Bilder und multimediales Material. Damit bietet „Geschichte kompakt“ einen zeitgemäßen Zugriff auf Themen und Fragen der Weltgeschichte – geeignet für Schule und (Eigen-)Studium, zum Nachlesen, Nachschlagen, Lernen, auf den aktuellen Stand bringen und Bescheidwissen.
Der deutsche Platz an der Sonne
Die Weltpolitik Deutschlands zielte unter dem jungen Kaiser Wilhelm II. zusehends auf eine Weltmachtstellung, getragen vom Grundgedanken einen „Platz an der Sonne.“7
Kaiser Wilhelm II., Fotografie von ca. 1910
Voraussetzung für diesen Anspruch stellte ein erstes deutsches Wirtschaftswunder dar – Deutschland bildete nicht mehr die Nachhut, sondern drängte in die erste Reihe der führenden Wirtschaftsmächte. Ein überschwängliches Selbstbewusstsein prägte die politischen und gesellschaftlichen Prozesse. Es entstand eine neue Landschaft von Industriestädten, Werkstätten verwandelten sich in Weltkonzerne, neue Arbeiter- und Fabrikkulturen entwickelten sich. Jahrzehnte später schrieb Stefan Zweig über jene Zeit unmittelbar vor dem Kriegsausbruch:
„Je kühner, je großzügiger ein Unternehmen angelegt wurde, umso sicherer lohnte es sich. Eine wunderbare Unbesorgtheit war damit über die Welt gekommen, denn was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog?“8
Die „alten“ Industriezweige, wie Eisen- und Stahlproduktion, schnellten in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in rasantem Tempo empor. Die Produktivität der Roheisenerzerzeugung verdreifachte sich von 1887 bis 1912, im Vergleich dazu hatte England einen Anstieg von nur 30 Prozentpunkten. „Neue“ Wirtschaftszweige, wie die chemische oder Elektroindustrie, kurbelten die deutsche Ökonomie weiter an. Bayer, AEG, Siemens und Bosch hießen die führenden Unternehmen der „New Economy“. Für seine Magnetzünder weltbekannt geworden, exportierte Bosch mehr als 80 Prozent seiner Produktion ins Ausland. Gleichzeitig stiegen die deutschlandweiten Einfuhren aus dem Ausland von 5,7 Mio. Mark im Jahr 1872, auf 161,3 Mio. Mark 1910.9 Der Welthandel florierte. Eine erste Globalisierungswelle lief an. Hand in Hand mit dieser ökonomischen Entwicklung ging eine zunehmende Abhängigkeit mit dem Ausland einher, die sich nun mehr auf die überseeische Welt ausweitete.
Neue Produktionsweisen der Schwerindustrie ermöglichten auch eine Ausweitung der militärischen Rüstung. Insbesondere der Flottenbau hatte unter Wilhelm II. eine neue Dimension angenommen. Die Firma F.A. Krupp lieferte einen neuen Typ von Panzerplatten, die eine einzigartige Abwehrkraft garantierten. Deutschland hatte sich in ein Wettrüsten mit England hinein gestürzt, bei dem der Flottenbau ein herausragendes Moment darstellte.10
Das neue deutsche Selbstbewusstsein zeigte sich auch in Form eines nationalistischen Gedankenguts rechtskonservativer Kreise. Der deutsche Imperialismus speiste sich ideologisch aus einer hierarchischen Vorstellung von Völkern. Man war den vermeintlich unterentwickelten Völkern überlegen, ergo stand man in einer zivilisatorischen Pflicht und konnte sich Kolonien aneignen, um den deutschen Weltmachtanspruch zu verwirklichen. Bei der Verteilung der Welt war Deutschland jedoch zu spät gekommen, was nun revidiert werden sollte.
In der Anfangsphase des neu gegründeten Kaiserreichs, in den 1870er Jahren, lag die Stoßrichtung der deutschen Außenpolitik vorwiegend in Europa. Auf eine Landkarte Europas deutend bemerkte Bismarck vielsagend: „Das ist meine Karte von Afrika.“11 Erst im Jahr 1884 begann das koloniale Abenteuer von deutscher Seite, mit dem Erwerb von Landstrichen in West- und Südafrika. Später kamen Kolonien an der afrikanischen Ostküste, Kiautschou (China), sowie kleinere Südseeinseln dazu. Es war ein sehr bescheidenes Kolonialreich, das die Deutschen aufbauten, in keiner Weise vergleichbar zu dem, was Engländer und Franzosen unter ihrer Gewalt hatten.
Es kristallisierten sich in dieser Zeit erste Interessengruppen für koloniale Angelegenheiten im Deutschen Reich heraus, die von der Fantasie angetrieben waren, mit den Kolonien nicht nur territorial an Geltung zu gewinnen, sondern auch wirtschaftlich zu profitieren. Die Deutsche Kolonialgesellschaft oder die Deutsch-Ostafrikanische-Gesellschaft vertraten direkte Wirtschafts- und Siedlungsinteressen in den neu erworbenen Kolonien. Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Verbandes (ab 1894 Alldeutscher Verband) formierte sich eine breite Bewegung, die heterogene Gesellschaftskreise unter der Idee eines „völkischen Gedankens“ miteinander verband.12 Der Alldeutsche Verband (ADV) trat „für eine energische Kolonialpolitik“ des deutschen Kaiserreichs ein.13Er war ein Sprachrohr für viele rechtskonservative, nationalistische Stimmen und agierte abseits der politischen Bühne als antiparlamentarisches Propagandaorgan.
Für den Staat bedeuteten Kolonien einen immensen finanziellen Aufwand, der sich kaum durch wirtschaftliche Erträge aufwog. Von daher waren Kolonien größtenteils Prestigeobjekte einer Regierung, die im Kabinett der Großmächte und vor der eigenen Bevölkerung etwas vorweisen wollte. Für einzelne Wirtschaftsunternehmen hingegen konnten sich koloniale Errungenschaften durchaus auszahlen, etwa wenn reiche Bodenschätze auf dem Gebiet zu vermuten waren.
Zur Erschließung von Rohstoffvorkommen stellte der Eisenbahnbau einen entscheidenden Faktor dar. Keine Goldmine und keine Baumwollplantage konnte ertragreich ausgeschöpft werden, wenn nicht vorher Transportwege eingerichtet wurden. Es waren vorwiegend Banken, die in den kolonialen Eisenbahnbau investierten. Die deutsche Hochfinanz beteiligte sich in großem Umfang an einem Bahnprojekt von Deutschland über Südosteuropa bis in den Mittleren Osten. Die „Berlin-Bagdad-Bahn“ hatte nicht nur Prestigecharakter, sie stellte auch einen Kontrollfaktor durch Einflussmöglichkeiten auf Handels- und Transportwege dar. In Zentralafrika gab es ähnliche Projekte, die den Austausch und Abbau von Gütern durch Eisenbahnverbindungen fördern sollten. Die Deutsche Bank hatte Bergwerkskonzessionen im Gebiet um Katanga im Belgischen Kongo erworben und war daran interessiert, den Bahnbau in der Region voran zu treiben – eine „Transafrikanische Eisenbahn“, die den Kontinent von der Ost- und Westküste her erschließen sollte, war das längerfristige Ziel.14
Engagements deutscher Unternehmen gab es auch in Marokko, wo erhebliche Erz- und Kupfervorkommen vermutet wurden. Vertreter aus schwerindustriellen Kreisen liebäugelten seit den 1890er Jahren mit dem Gedanken, in Marokko Fuß zu fassen. Eine marokkanische Kolonie mit Deutschland als Schutzmacht zu errichten, hätte bedeutet, der eigenen Industrie den Vorzug vor ausländischen Montanunternehmen geben zu können. Den Franzosen, die als Kolonialmacht über Marokko verfügten, lag allerdings viel daran, diesen Status zu verteidigen. Konflikte waren hier vorprogrammiert sollten die Deutschen derlei Ziele verwirklichen wollen.
Dennoch war der Ruf nach Marokko Anfang des 20. Jahrhunderts zu hören und der Kaiser sah Handlungsbedarf, den Franzosen, die ihre Hand auf Marokko legten, in ihrer Kolonialpolitik einen Riegel vorzuschieben. Mit einem Besuch in der nordmarokkanischen Hafenstadt Tanger landete der Kaiser am 31. März 1905 einen demonstrativen Coup, der für internationales Aufsehen sorgte. Was hatte ein deutscher Kaiser auf feindlichem Kolonialgebiet verloren, fragten sich internationale Diplomaten. Für sie war die Landung des Kaisers in Marokko eine provozierende Geste, was