Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
Gundolf S. Freyermuth
Reise in die Verlorengegangenheit
Auf den Spuren deutscher Emigranten [1933-1940]
FUEGO
- Über dieses Buch -
Die »Reise in die Verlorengegangenheit« erzählt vom deutschen Exil – von dem Exodus der kulturellen Elite, mit dem 1933 die Teilung der deutschen Kultur begann. Freyermuths Reise führt vom Berlin der Gegenwart in das von Nazi-Truppen umstellte Marseille, das letzte Schlupfloch der »Falle Europa«. In sechs exemplarischen Portraits deutscher Emigranten werden die halbverwischten Spuren dieses wichtigen Teils unserer Geschichte gesichert. Aus einzelnen Schicksalen, Anekdoten und Erinnerungen der portraitierten Künstler weitet sich die Erzählung zu einer Geschichte des deutschen Exils.
Gespräche mit Berliner Künstlern, Kulturpolitikern und Intellektuellen über die Vergangenheit von Exil und Teilung sowie über die Chancen und Gefahren einer vereinigten Zukunft begleiten die historische Reise. In diesem Chor damaliger Berliner Charaktere verschränken sich die Umwälzungen der Jahreswende 1932/33 mit der »Revolution« von 1989/90 - der gewaltsame Beginn der deutschen Teilung mit ihrer friedlichen Beendigung. Die Fahrt auf den Spuren deutscher Emigranten ist daher auch eine aktuelle »Bildungsreise«: eine Erkundung der historischen wie der »ideologischen« Orte, an denen sich eine neue nationale Identität gebildet hat.
Stationen einer Reise in die deutsche Verlorengegangenheit, auf der Suche nach dem anderen, besseren Teil unserer Tradition.
Zum Coverbild: As Time Goes By – Der Hitler-Flüchtling und Schauspieler Paul Henreid, geboren in Österreich als Paul von Hernried, der in dem Anti-Nazi-Klassiker »Casablanca« (1942) die dritte Hauptrolle des Widerstandskämpfers Victor Laszlo spielte, hier fotografiert vom Autor 1985 in einem Hollywooder Fastfood-Restaurant unter einem Foto, das ihn als jungen Mann in der legendären Schlussszene des Films mit Claude Raines, Humphrey Bogart und Ingrid Bergman zeigt.
Inhalt
Erstes Kapitel: Berliner Katakomben
Zweites Kapitel: Flucht aus Deutschland
1
»Am Anfang hat man das alles nicht so ernst genommen.« 1
Achtundsiebzig Umzugskisten • Tief atmend und hartrhythmig dröhnt Deutsch-Rock in der Luft, die sich zwischen den hohen Wänden des berlinisch verwahrlosten Fabrikkomplexes gefangen hat. Woher die Musik kommt, aus welchem der dunklen Schächte, die ins Innere der Lager und Büros führen, lässt sich nicht ausmachen.
»Hier entlang!« sagt der dünne Mann, dessen Empfehlungen mir in New York und Los Angeles die Türen geöffnet haben und der mich nun - Charon, dem Fährmann ins Totenreich, gleich - in die provisorischen Katakomben des deutschen Exils geleiten will. Während Gero Gandert mit der rechten Hand unkonzentriert in seiner Aktentasche nach den Schlüsseln wühlt, weist mir seine linke mit ebenso unruhigen Bewegungen den Weg.
Der Komplex des ehemaligen Luftfahrtgerätewerkes, das zum Siemens-Konzern gehörte, liegt an der Spandauer Streitstraße. »Fast schon in Hamburg« hieß es, bis die Mauer fiel und sich das wüste Niemandsland links und rechts der Transitstrecke über Nacht in wertvolle Immobilien verwandelte.
Zwischen den Gebäudeflügeln, die den Fabrikhof begrenzen, und den kleinen Flachbauten, die in seiner weiten Mitte den Eindruck von Leere und Nutzlosigkeit bekämpfen, parken dicht an dicht Wagen der unteren Mittelklasse. Ganz weit vorne, im linken Inneneck, dort, wohin die Sonne nur als Schatten dringt, hieven vier schwergewichtige Arbeiter, schwitzend und stöhnend, noch schwergewichtigere Lasten auf einen blauen Transporter. Außer ihnen und uns ist an diesem Frühlingsmorgen auf dem weiten Gelände kein menschliches Wesen. Von dem, was zur Stunde in »Berlin« geschieht, wie die Spandauer seit alters her die nahe City nennen, lässt die Abgeschiedenheit in dem stillen, von der Einmauerung gelassenen Winkel nichts spüren.
Über den hohen alten Bäumen scheint der Himmel nur freundlich. Zehn Kilometer weiter, rund um die Gedächtniskirche und über dem Brandenburger Tor, strahlt er lauter sonnige Versprechungen ins Blaue, die die Jahreszeit auf Dauer gar nicht halten kann. Hektische Aufbruchsstimmung herrscht dort im Jahre eins nach der Wende. Gründerzeiten allüberall.
In der Etappe des Vereinigungszuges ist Umverteilung im vollen Gange. Claims werden abgesteckt, zögerliche Mitspieler abgeschüttelt und Konkurrenten ausgestochen. Das Geschäftsinteresse stürmt voran, die Gedanken stolpern hinterher. Wer zuletzt kommt, zahlt am meisten. In verschwiegenen Nebenräumen feilschen vorausschauende Museumsdirektoren und besorgte Institutsleiter um Archivbestände, Zusammenlegungen, Pfründe. Verlagsscouts und Rockpromoter, Kunst- und Antiquitätenexperten, Musik- und Filmproduzenten, alle handeln und rasen im Rausch kommender Abschlüsse um die Wette. Zukünftige Gewinne werden gefeiert, wie sie gerade einfallen, auf Kater komm raus.
Entlegene Nischen haben es da für ein paar historische Stunden besser. Die vier Arbeiter lassen die Lasten, wo sie sind, und machen erst mal Pause. Sind die Tage im Schutze der Mauer auch gezählt, noch ruht die Fabrikidylle im subventionierten Abseits, noch existiert das jahrzehntealte Halbstadt-Gemisch, wie es öffentlich-dienstlich werkelt und döst. Als einzige Laute klingen wieder aus der Ferne der Hallen Deutsch-Rock-Rhythmen.
»Fünfzehn Zentner Papier!« sagt Gero Gandert, und seine Stimme vibriert vor Begeisterung. »Wochenlang habe ich in dem Keller unterm Sunset Boulevard gehockt und sortiert ... Alles erste Sahne! Ein Schatz!«
Auf den schmutzig grauen Fabrikfassaden laufen Überputzleitungen und enden kopfhoch in klobigen Schaltern; Unkraut überwuchert die Steine des Gehwegs. Im hintersten Eck des Innenhofs, wo sich leere Holzkisten und Pappstücke rund um einen halboffenen, überquellenden Abfallcontainer stapeln, bleibt zwischen einem Maschendrahtzaun und dem Müll ein schmaler Weg zur Eingangstür.
»Einen Wassereinbruch hat es gegeben«, erzählt Gandert, während er wieder nach dem Schlüssel wühlt, »und wir mussten das Material direkt von Los Angeles zur Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung in Frankfurt schicken lassen. Dort ist es, ich zögere, wenn ich das Wort in diesem Zusammenhang ausspreche, ›begast‹ worden. Um die Schimmelsporen abzutöten.«
Unser Aufstieg endet im ersten Stock vor einer verdreckten Metalltür mit Milchglasscheiben. Neben dem weißen Klingelknopf steckt eine Visitenkarte, auf ihr prangt das schwarze Scherenschnitt-Logo einer altertümlichen Kamera: Stiftung Deutsche Kinemathek.
Die Stahltür öffnet sich auf eine mehrere hundert Quadratmeter große Lagerhalle. Ihre riesigen Glasscheiben hat man, um die Exponate vor Tageslicht zu schützen, mit Folie verklebt. Ein Gewirr von Metallregalen verstellt die halbdunkle Fläche. Auf ihnen stapeln sich bis kurz unter die hohe Decke Kostüme und Requisiten, Bücher und Schneidevorrichtungen, Tausende von Filmbüchsen und Dutzende von Kameras aus den Anfängen der Kinematographie. Zur Hälfte verschwinden ihre Konturen im Dunkel der Halle, zur anderen Hälfte vergolden einzelne Sonnenstrahlen, die durch Lücken in den Fensterabdeckungen dringen, die seltsamen Preziosen.
»Ich gehe mal vorneweg«, sagt mein Cicerone, als hätte er, seit ich ihn kenne, je etwas anderes getan.
Gleich links droht ein Plakat zu Fritz Langs »M«: »Dein Mörder sieht Dich an«,