Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth


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brüllen »Juden raus« und: »Hitler vor den Toren!« - eine Parole, die peinlich die klassische Halb-Bildung des Propagandachefs verrät. 17Hannibal, der einst ad portas drohte, war es bekanntlich nicht vergönnt, über die römische Hauptstadt zu herrschen; und das ist es ja wohl kaum, was die Randalierer für Hitler und Berlin prognostizieren wollen.18

      Auf der Leinwand tobt derweil furchterregend der Erste Weltkrieg: Die Angehörigen der Schulklasse, die sich nach einer nationalistischen Brandrede ihres Lehrers geschlossen »freiwillig« meldeten, verlieren beim ersten Einsatz im Menschen wie Material verschlingenden Grabenkampf der Westfront teils ihr Leben, teils ihre Illusionen. Ausgerechnet den Heißhunger, den die geschockten Halbwüchsigen daraufhin in der Etappe entwickeln, nimmt Goebbels zum Anlass, den Skandal zu erklären.

      »So benimmt sich kein deutscher Soldat!« schreit er aufspringend - und gibt seinen Getreuen damit das Signal. Vom Rang werden Tanzmäuse und weiße Ratten ins Parkett geworfen. Tumult bricht aus, das Licht geht an, die Vorstellung muss unterbrochen werden. NS-Führer steigen abwechselnd auf die Sitze und brüllen Ansprachen.

      Vor der vereinten Belästigung durch Viecher und Parolen ergreift eine Mehrheit des Publikums die Flucht. Drei, vier Stinkbomben fliegen, die Fliehenden werden von den SA-Leuten brutal attackiert. Schließlich erscheint ein Zug Schutzpolizei und schafft die Randalierer unter Knüppeleinsatz aus dem Saal - wobei ein übermäßiges Arsenal weiterer Stinkbomben sichergestellt wird, die man, wohl aus Gründen der Selbstschonung, nicht geworfen hat.19

      Auf dem inzwischen abgeriegelten Nollendorfplatz setzen die Nazis ihre Aktion fort.20 Vor seinen Anhängern hält Goebbels, unter reichlicher Verwendung antisemitischer Parolen, eine geifernde Rede gegen Buch und Film.21 Die Zuhörer jubeln, schwenken die Hüte und leisten den Tschako-geschützten Polizeitruppen so hartnäckig Widerstand, dass die Neun-Uhr-Vorstellung abgesagt werden muss. Das Chaos ist perfekt. Menschenmassen verstopfen die Straßen, die Breschen, die die Gummiknüppel der Überfallkommandos schlagen, schließen sich Sekunden später wieder, der Verkehr staut sich in alle Himmelsrichtungen.

      »Kein Mensch wusste, worum es ging«, schreibt Arnolt Bronnen, einst ein enger Freund Brechts, damals NS-Kampfgenosse und nach dem Krieg wieder Kommunist: »Es gab Radau, weil diesen Menschen, welche Goebbels kommandierte, Radau als etwas Schönes erschien und weil Goebbels in geschickter Weise die Instinkte der Masse gegen die Snobs und Pelzmantel-Dämchen vom Kurfürstendamm einzusetzen verstand.«22

      Zwischen einzelnen SA-Leuten und verhinderten Kinobesuchern kommt es zu erregten Debatten. Ein Augenzeuge muss empört, aber hilflos erleben, wie die »15- bis 18jährigen Burschen, die zur Zeit, als wir im Dreck und Schlamm die Grenzen der Heimat wieder und wieder schützten, noch in den Windeln lagen«23, die realistische Darstellung des Krieges und der Leiden seiner Opfer verspotten.

      An diesem Dezemberabend beginnt eine Kraftprobe um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, in deren Verlauf die Republik auf einem sehr symbolischen Schauplatz eine Niederlage erleiden wird; eine kleine Niederlage zwar, aber in ihr zeichnen sich modellhaft bereits die Konturen der großen ab.

      Die nächsten Tage wird der Anti-Kriegsfilm unter Polizeischutz laufen, während draußen auf dem Nollendorfplatz Straßenschlachten toben;24 mit dem voraussehbaren Erfolg, dass die Vorstellungen dank der Krawalle ausverkauft sind.25 Doch eine Lösung im freien Spiel der Kräfte ist es nicht, die Goebbels anstrebt. Er lässt seine Sturmabteilungen auf das obrigkeitsstaatliche Verbot des pazifistischen Werks hin randalieren.

      Am Sonntagabend dauern die Gewalttätigkeiten der »fanatischen Pöbelgarde unter der Führung eines klumpfüßigen Psychopathen«, wie Carl von Ossietzky in der Weltbühne schreibt,26 bis nach Mitternacht27 an, so dass die »Deutschland erwache«-Rufe für den einen oder anderen Anwohner durchaus praktische Konsequenzen haben.28

      »Jeder, der diesen Film ansieht, ist ein Verräter an der deutschen Sache«, schimpft ein NS-Agitator vor dem Lichtspieltheater - und gibt im gleichen Atemzug freimütig zu, dass er das Werk, das er so brutal bekämpft, nicht kennt und nicht kennen will.

      »Kopfschüttelnd geht man weiter«, schreibt im Stil eines distanzierten Flaneurs der Berichterstatter des Berliner Tageblatt: »Leben wir im Jahre 1930 und hat sich nichts geändert? Alle, die noch bei Verstand geblieben sind, wenden sich von dieser Kulturschande betroffen ab.«29

      Unglücklicherweise ist das, knapp zwei Jahre, viele Tote und ein paar Übergangsregierungen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, nicht mehr die absolute Mehrheit. Die sächsische und thüringische Landesregierung sowie Braunschweig stellen Verbotsanträge gegen »Im Westen nichts Neues«. Gleichzeitig wird bekannt, dass die Reichsregierung unter Kanzler Brüning, falls notwendig, eine Gesetzesnovelle einbringen will, um eine Indizierung des Films zu ermöglichen. Entsetzt vermerkt ein liberaler Leitartikler, »dass es ›bürgerliche‹ Parteien gibt, die im Schatten der nationalsozialistischen Phraseologie sich selber nicht mehr ›national‹ genug vorkommen und eine Art Wettlauf mit dem Rechtsradikalismus beginnen ... Anscheinend glaubt man, aller Erfahrung zum Trotz, in diesen Kreisen immer noch, dass schlaue Nachgiebigkeit und Taktik weiter führt, als entschlossener Widerstand.«30

      Bereits der folgende Abend beweist den zweifelhaften Erfolg solchen Taktierens: Die Masse der Bürgerkrieger hat sich auf sechstausend Mann erhöht, die Unruhen eskalieren, Passanten werden im Dutzend krankenhausreif geschlagen. Die Schutzpolizisten geben mehrfach Warnschüsse ab, um der Lage Herr zu bleiben, lassen dem Straßenterror jedoch weitgehend seinen Lauf - die Beamten der zuständigen Sportpalast-Einheit sind seit sieben Tagen ununterbrochen gegen NS- und KP-Krawalle im Einsatz, sie sind übermüdet und, wie sich bei manch anderer Gelegenheit zeigt, wohl auch grundsätzlich nicht übermäßig motiviert.31 Der keineswegs wilde, sondern wohlorganisierte Mob zieht, Fensterscheiben einwerfend und Geschäfte plündernd, vom Nollendorfplatz über den Wittenbergplatz zum Fehrbelliner Platz, wo Gauleiter Goebbels sich bei einem weiteren seiner Hass- und Hetzauftritte austobt.32

      Montagmorgen verkündet der Polizeipräsident von Berlin ein Demonstrationsverbot, das ab vierzehn Uhr gilt. Bis nächsten Donnerstag, den 12. Dezember, will die Film-Oberprüfstelle, auf die von der Regierung Brüning heftiger Druck ausgeübt wird, Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichswehrministeriums anhören33 und dann über die Verbotsanträge entscheiden.34 Es wird bekannt, dass Hugenberg in einem persönlichen Telegramm an den Reichspräsidenten Hindenburg35 um Unterstützung im Krieg gegen den friedensfördernden Film gebeten hat. Das gesamte Kabinett lässt sich »Im Westen nichts Neues« vorführen.36

      Trotz deutlicher Warnungen aus dem Ausland mehren sich die Zeichen für ein bevorstehendes Verbot. Der Kommentator des Berliner Tageblatt, der ausführlich darlegt, dass nach der bestehenden Rechtslage die Zensur nicht eingreifen dürfte, befürchtet: »Wenn die Mannen und Jungens des Herrn Dr. Goebbels in diesem einen Fall ihre destruktiven Ziele erreichen, werden sie bald einen zweiten, dritten und zehnten Fall konstruieren ...«37

      Angesichts des NS-Terrors entwickelt sich die Entscheidung über den Antikriegsfilm zu einer prinzipiellen Frage, zu einem Exempel. Die weitreichenden Folgen der möglichen Indizierung des kritischen Unterhaltungswerks, das unter anderen politischen Umständen nur ein gutes oder schlechtes Geschäft gewesen wäre, erkennen die Zeitgenossen durchaus. Theodor Wolff, einflussreicher Chefredakteur des Berliner Tageblatt und Emigrant in spe, wird die Verschwörung des Staates gegen seine eigenen Gesetze und Grundsätze, die sich im Dezember 1930 vor aller Augen abspielt, an ihrem Ende mit der Dreyfus-Affäre vergleichen: Beide Fälle waren, schreibt er bereits am Sonntag nach der Entscheidung, ein »Prüfstein für die moralischen und geistigen Zustände in einem Staat, für die Kraft oder die Schwäche des Rechtsempfindens und des Wahrheitssinnes und für den Charakter der Regierenden«38.

      Wie er empfinden damals nicht viele. »Die Unterschätzung der Gefahr, die da mit täglich wachsender Gewalt herauf kam, in allen Kreisen des Bürgertums, die Juden nicht ausgenommen, war erschreckend und deprimierte mich tief«,39 erinnert sich der Verleger Gottfried Bermann Fischer. »Das liberale Bürgertum hatte nichts Positives mehr


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