Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
deutsch-jüdische Symbiose, die in ihrer Größe und Eigenart unwiederbringlich ist. Verzögert wurde in nicht wenigen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen die Rezeption neuer Methoden, Ergebnisse und Stilformen - manchmal für nahezu zwanzig weitere Jahre -, und das konnte nicht ohne Wirkung auf die Entwicklung von Literatur, Kunst und Wissenschaft bleiben.«68
Das Zerstörungswerk beschränkte sich zudem nicht auf den deutschen Sprachraum. So europäisch der Faschismus herrschte, so umfassend war auch der Schaden, den er hinterließ. Die Diktaturen von Franco und Salazar, die ihre Macht unmittelbar Mussolini und Hitler dankten, überlebten deren Untergang um ein Vierteljahrhundert. Eine weitere direkte Folge von Faschismus und Krieg war schließlich die Kasernierung des Ostens, die diesen Teil Europas für noch längere Zeit sowohl vom ökonomischen Fortschritt als auch von der Freiheit des kulturellen Lebens abschnitt. Gerade aus den Zerfallsgebieten der k.u.k.-Monarchie aber waren im ersten Drittel des Jahrhunderts entscheidende Impulse für das intellektuelle Leben in den mitteleuropäischen Metropolen gekommen.
»Europa, womit ich den kulturellen Mittelpunkt der westlichen Moderne meine, wo auch immer ihre Künstler geografisch tatsächlich angesiedelt sein mögen, wurde in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Museum«, resümiert der Kulturwissenschaftler Ferenc Fehér in einem Abgesang auf den alten Kontinent: »›Europäische Kultur‹ ist weiterhin ein Teil von uns, sie strahlt mit dem Glanz vergangener Hochkulturen, aber sie ist ein Ausstellungsgegenstand, der vorgeführt wird, und repräsentiert keine kulturell vorwärtstreibende Kraft mehr. Die europäische Kultur hat zahlreiche Besucher, aber keine Nachfolger ...«69
Denen, die es bei einem anderen Verlauf der Geschichte hätten werden sollen, blieben nach dem großen Exodus, in die Welt verstreut, nur Werke, die sich überlebten, und Überlebende, die dahinstarben.
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Der Landvermesser • »Dear Paul, I hope you received my letter«, liest Gero Gandert: »Please Paul, I hope you will help me ... If you can't send me 20 Dollars, please, send me 15 ...«
Gandert, ein dünner Mann Anfang Sechzig mit schütterem Haar, schüttelt den Kopf, während er den Brief zusammenfaltet und zurück in den Umschlag schiebt: »Dieser Hilferuf stammt von Lien Deyers, einer wunderbaren Ufa-Schauspielerin. Sie war eine so schöne Frau. Im Exil ist sie dem Alkohol verfallen und zugrunde gegangen.«
Den Umschlag legt Gandert sorgfältig zurück in die gelbliche Briefmappe, und die Mappe verstaut er mit ruckigen Bewegungen in dem ungeordneten Papierwust des Umzugskartons.
»Zuletzt hat man von ihr gehört, dass sie am Strand von Malibu Würmer an die Angler verkaufte ... Kein Mensch weiß, wie sie geendet hat, wo sie begraben liegt ...«
Gandert wühlt suchend weiter in der Kiste und zieht eine andere Mappe heraus. »Oh, oh!« ruft er aus: »Dieser Brief stammt von einem Produktionsleiter der Universal. Sehen Sie mal ...«
Er hält mir das angegilbte Stück Papier hin. Ich erkenne die Jahreszahl 1933. »Mit deutschem Gruß!« liest Gandert, mein Fährmann ins Totenreich. Seine Stimme klingt angewidert.
Schwarz entströmte das Blut: und aus dem Erebos kamen / Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. / Jüngling‹ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise, / Und aufblühende Mädchen im jungen Grame verloren. / Viele kamen auch, von ehernen Lanzen verwundet, / Kriegerschlagene Männer, mit blutbesudelter Rüstung. / Dicht umdrängten sie alle von allen Seiten die Grube / Mit graunvollem Geschrei; und bleiches Entsetzen ergriff mich. 70
Eine Szene aus Feuchtwangers Roman »Exil« schießt mir durch den Kopf: »Sind sie nicht«, heißt es da von zwei streitenden Berlin-Emigranten in Paris, »wie jene Schatten, welche Odysseus im Hades aufsucht? Sie treiben es fort dort unten, wie sie es als Lebende getrieben haben, und hassen und lieben einander wie damals.«71
Draußen in dem weiten sonnigen Innenhof des Fabrikkomplexes an der Spandauer Streitstraße beenden die vier Arbeiter ihre Verschnaufpause. Während sie wieder Last auf Last in den blauen Transporter hieven, stehen wir im ersten Stock vor dem einzigen nicht verdunkelten Fenster und kramen in dem Schatz, den Gero Gandert aus dem Keller unter dem Sunset Boulevard nach Berlin gerettet hat.
Wir blättern in Schmähschreiben, die Paul Kohner vor sechzig Jahren als »Jude mit amerikanischem Pass« erhielt, wir finden Vertragsentwürfe und Stapel von Telegrammen zu Projekten, von denen, wie in dieser Branche üblich, die meisten nie realisiert wurden, ein paar aber Filmgeschichte machten. Zwischen Eisenbahn- und Schiffstickets, zwischen Rechnungen von Luxushotels in Wien und Budapest, London und Paris, zwischen Zeitungsausschnitten und Speisekarten von Transatlantik-Dampfern stoßen wir auf Briefe von Freunden und Verwandten, die über das Leben in den Lagern und von den bürokratischen Schikanen des Exils berichten.
Das Durcheinander von banalen und außergewöhnlichen Papieren wirkt so kunterbunt, wie es das Leben war, dessen Zeugnisse in den achtundsiebzig Umzugskisten lagern. Memos und das Exposé für einen amerikanischen Luis-Trenker-Film stecken neben einem Hilfsschreiben vom Mitteilungsblatt der israelitischen Kultusgemeinde in Teplitz-Schönau vom 23. Februar 1938: »Ich möchte Sie sehr höflich bitten, die Zeitung einigen prominenten Amerikanern zukommen zu lassen ...« Und ein Brief Kohners an seine Mutter, die sich weigert, Europa zu verlassen, liegt auf einem Telegramm mit den persönlichen Daten eines Mannes, der dringend ein Visum für die USA benötigt - an den Rand hat der Empfänger lapidar mit Bleistift gekritzelt: »Ask, what sort of affidavit he wants me to write ...«
»Kohner war in Berlin bekannt wie ein bunter Hund«, sagt Gandert. »Als er dann Mitte der dreißiger Jahre zurück nach Hollywood ging, haben sich Hunderte von Leuten an ihn gewandt und um Hilfe gebeten.«
Paul Kohner hat sie gewährt, so gut er konnte. Das Schicksal wollte, dass er es besonders gut konnte. Nachdem Laemmle überraschend die Universal verkauft hatte, kündigte Kohner und wechselte zu Metro-Goldwyn-Mayer. Dort Fuß zu fassen gelang ihm nicht recht. Als 1936 der legendäre MGM-Produzent Irving Thalberg, Vorbild für F. Scott Fitzgeralds Helden Monroe Stahr in »The Last Tycoon«, eine eigene Firma plante, wollte er Kohner engagieren - doch ein paar Wochen später war Wunderkind Thalberg, gerade siebenunddreißig Jahre alt, tot.
In dieser Zeit entdeckte Kohner bei einem Spaziergang über den Sunset Boulevard ein soeben fertiggestelltes Gebäude und beschloss kurzerhand, MGM zu verlassen und sich selbständig zu machen - nicht als Produzent, sondern als Agent.
Er mietete das Büro und begab sich auf die Suche nach Klienten. John Huston war der erste, sein Vater Walter Huston der zweite. Binnen Jahresfrist war die Reihe der Kohner-Klienten lang, erlesen und - trotz einiger prominenter Amerikaner - sehr europäisch.
Eine Liste aus den frühen vierziger Jahren verzeichnet etwa neben den Hustons Curtis Bernhardt und Dolores del Rio, Curt Bois und Vicki Baum, Greta Garbo und Gottfried Reinhardt, Robert Siodmak und Marlene Dietrich, Robert Taylor und Hedy Lamarr, Erich von Stroheim und Peter Lorre, Pola Negri und Lion Feuchtwanger, Fritz Lang und Luise Rainer, Myrna Loy und Paul Henreid, Felix Bressart und Salka Viertel, Alexander Granach und Szöke Szakall, Albert Bassermann und Robert Stolz, Helene Thimig und Ernst Deutsch, Maurice Maeterlinck und Dolly Haas.
Nach zwei Jahrzehnten im Hollywood-Geschäft verfügte Kohner über hervorragende Verbindungen, die nicht nur seiner Agentur und seinen erfolgreichen Klienten zugute kamen. So findet sich unter dem Datum vom 12. November 1940 eine saloppe Notiz an den Agenten-Kollegen Saul Collins, dem Kohner den Regisseur des »blauen Engel« für ein Comeback andient:
»Dear Saul, I just had a brainstorm, a wonderful man for your picture who could be gotten with a very interesting proposition, would be Josef von Sternberg ...«
Die meisten Briefe, Telegramme und Inter-Office-Memos in diesem Karton aber handeln nicht von Personen, die in der Filmkolonie schon einen Namen hatten. Sie zeugen vielmehr von den unermüdlichen Bemühungen Paul Kohners, filmunerfahrene Europa-Flüchtlinge zu vermitteln. Nach dem »Anschluss« Österreichs und dem Münchner Abkommen begann jedoch der Ansturm von Hilfesuchenden, seine Mittel und Möglichkeiten