Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
des national eingeengten Bewusstseins bestand: »Die Welt, in der wir lebten, wurde immer größer«, erinnerte Elsbeth Weichmann: »Die Emigrantennotgemeinschaft wuchs auf diese Weise mit den Jahren zu einer Weltgemeinschaft und entwickelte ein Weltwissen, das aus vielen von uns Weltbürger machte«84. Auch der Sozialwissenschaftler Leo Löwenthal beobachtete an sich selbst die »Ausweitung meines Horizonts«: »... ich fühle mich viel kosmopolitischer, vielmehr ein Mann der Welt, als ich das je in Deutschland gefühlt habe oder vielleicht fühlen würde.«85 Sein Freund Adorno reflektierte die amerikanische Zeit: »Kaum ist es übertrieben, dass ein jegliches Bewusstsein heute etwas Reaktionäres hat, das nicht, sei es auch mit Widerstand, jene Erfahrung sich wahrhaft zugeeignet hätte.«86 Und der Sozialwissenschaftler Adolph Lowe stellte schlichtweg fest, erst in den USA habe er erkannt, »wie provinziell mein Gesichtskreis war in den ersten vierzig Jahren meines Lebens, in denen ich auf meine Weise auch überzeugt war, dass am deutschen Wesen die Welt genesen müsse«87.
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Reisekostenabrechnung • Auch diese Reise auf den Spuren des deutschen Exils ist eine Bildungsreise. Sie folgt dem historischen Muster: Ihr Ziel sind nicht exotische Orte, sondern das bessere Verständnis des eigenen Alltags; als Fahrt durch die Zeit führt sie vorrangig an Orte der Geschichte, um an ihnen zu besichtigen, was in unserer Zukunft wichtig werden sollte; und wie bei Bildungsreisen üblich, begannen die Vorbereitungen früh.
Stück für Stück sammelte ich, wohl schon während der Schulzeit in den sechziger Jahren, als ich das Reiseziel noch gar nicht kannte, mein Gepäck, aus zunächst unverständlichen Beobachtungen, aus zufälligen Erlebnissen und hingeworfenen Bemerkungen, die Verdacht weckten, aus der Wattemauer des Schweigens, mit der die Älteren fast alles umgaben, was ihre Vergangenheit vor 1945 betraf, und aus der Redseligkeit, mit der Nachfragen nicht beantwortet wurden.
Den entscheidenden Anstoß allerdings, der mich den Plan zu der Reise fassen ließ, gab eine eigene »Entdeckung« zu Beginn meines Studiums. Allein schon, dass ich sie machen konnte - dass mir also dreizehn Schuljahre zuvor diese simple Tatsache nicht vermittelt hatten -, beweist die Verlorengegangenheit als Teil einer ungeheuren Verlogenheit.
Zwei neue Leidenschaften veränderten damals, in den frühen siebziger Jahren, mein Leben. Ich begann - darin als verspäteter einzelner nachholend, was die kritische bundesdeutsche Intelligenz in den anderthalb Jahrzehnten zuvor als Gruppe absolviert hatte - meinen Weg durch die »Frankfurter Schule«; das heißt durch ein kulturelles Klima, welches von den Theorien in ihrem Umkreis, dem Denken von Horkheimer und Adorno, aber auch von Marcuse, Löwenthal und dem frühen Kracauer getragen wurde. Genauer trifft vielleicht die Rede von der »Suhrkamp Kultur«, da sie Brecht, Benjamin und Bloch mit einbegreift. Besonders faszinierten mich die frühen Analysen der Massenkultur, Kracauers filmtheoretische Schriften, Benjamins »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno.
Dieses Interesse hatte seinen Grund in der Affinität zur zweiten neuen Leidenschaft. Viel Zeit verlebte ich in den sich gerade wie die Kneipen vermehrenden Filmkunstkinos. Sie bestritten ihr Programm zu einem nicht unwesentlichen Teil mit Erst- und Wiederaufführungen von Filmen, die in den dreißiger und vierziger Jahren in Hollywood entstanden und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Diktatur im Fernsehen noch nicht oder nur verstümmelt gelaufen waren, Werke des film noir, screwball comedies, Anti-Nazi-Klassiker.
Gehörte der Studientag daher der Kritischen Theorie und ihrem Verdikt über Kulturindustrie, so verbrachte ich, als zeige der Abwehrkampf gegen die Versuchungen mit hereinbrechender Dunkelheit gewisse Ermüdungserscheinungen, die »Night in Casablanca«. Es mag unglaublich klingen, aber es vergingen lange Monate, bis ich endlich realisierte, dass die kanonischen Texte zur Massenkultur, an denen ich mich abarbeitete, zum überwiegenden Teil zur selben Zeit und am selben Ort entstanden waren wie die Werke der Traumfabrik, die sie - neben vielem anderen, versteht sich - verdammten; dass für die Analysen also gewissermaßen Erfahrungen mit Hollywood aus erster Hand verantwortlich waren, die die Autoren während der dreißiger und vierziger Jahre in Amerika gesammelt hatten.
Kurzum: auf diesem Weg erfuhr ich, ein zwanzigjähriger Nachkriegsdeutscher, allererst von der historischen Tatsache des großen Exodus nach 1933, ich »entdeckte« das Exil. (Das Schimpfwort Emigrant in Zusammenhang mit der »unbewältigten Vergangenheit« hatte ich bis dato nur aus dem tagespolitischen Kontext gekannt, wo es Willy Brandt traf, der, wie die üble Nachrede wollte, es »gewagt hatte, in einer norwegischen Uniform deutschen Boden zu betreten«.)
Noch einmal brauchte es dann einige Zeit, bis ich, wieder sehr überrascht, in Erfahrung brachte, dass auch die nächtlich genossenen Filme zu einem großen Teil das Werk von Flüchtlingen aus dem deutschen Kulturraum waren, dass etwa zum Entstehen des düsteren Stils der bewunderten »Schwarzen Serie«, die sichtlich dem deutschen Stummfilmexpressionismus viel verdankt, Hunderte von Emigranten beigetragen haben, als Autoren und Regisseure, Techniker und Produzenten, Kameramänner und Cutter, als Set-Designer, Beleuchter und auch als Schauspieler in unzähligen Nebenrollen.
Ein seltsam doppelter Umweg ließ mich so - am Beispiel meiner eigenen »Bildung« durch Kritische Theorie und Hollywood - die öffentlich kaum diskutierte Nachwirkung des Exils auf die bundesrepublikanische Gegenwart erkennen. Und auf einem weiteren Umweg über die Weimarer Kultur, die 1933 fast geschlossen Deutschland verlassen musste, stieß ich schließlich auf die literarische Form, in der ich die »Reise in die Verlorengegangenheit« erzählen konnte.
Nachhaltiger als jede andere Sparte der Literaturproduktion wurde die Reportage, wie sie in den zwanziger Jahren ihre Blüte erlebte, durch das Exil betroffen. Denn diese Art des Schreibens ist eine soziale Kunst. Reportagen verfasst man nicht im kleinen Kämmerlein und für die Schublade. Ihr Autor, will er sein Schreibziel erreichen, ist in höherem Maße als etwa ein Lyriker auf unmittelbare Publikation angewiesen. Seine Texte zehren von der Gegenwart und sind, wie hoch auch ihre aktuellen Ewigkeitswerte steigen mögen, der zeitgenössischen Wirkung verfallen. Für die Entfaltung einer lebendigen Reportagetradition ist conditio sine qua non daher erstens das Vorhandensein publizistischer Organe, welche die Reportage pflegen.88
Zweitens notwendig ist ein zahlenstarkes Lesepublikum, das sich nicht nur für das interessiert, was die große Reportage gegenüber anderen literarischen und journalistischen Erzählweisen leistet, sondern das auch in der intellektuellen Lage ist, mit der nicht unkomplizierten Form zu Rande zu kommen: der tendenziellen Offenheit des Mischgenres, der Freiheit zu Reflexionen und Abschweifungen, der schnellen Montage heterogener Elemente, dem Gebrauch »fiktionaler« Techniken bei der Darstellung von »wirklichen« Ereignissen.89
Diese Abhängigkeit von demokratischen Verhältnissen und einer entwickelten publizistischen Landschaft machte die Kunst der Reportage im Exil, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, kaum lebensfähig.90 Exilliteratur hat Hans Magnus Enzensberger einmal als Beispiel einer »Literatur auf Verdacht« beschrieben.91 Reportagen aber entstehen selten auf Verdacht. Die Tradition kritischer Publizistik brach mit der nationalsozialistischen Machtübernahme abrupt ab. Ihr Ausfall hat sowohl die Kultur des Exils als auch später die der Nachkriegszeit negativ geprägt. Denn die Form ist wie kein anderes Genre geeignet, historische Umbruchsituationen zu erfassen: Entstanden »aus dem Ungenügen der Literatur an sich selbst«, so Erhardt Schütz, stellt die Reportage einen »vorgeschobenen Punkt« in der Formulierung des literarisch noch nicht Fixierten dar. Was sie nicht zur Sprache bringt, bleibt lange von Schweigen betroffen.
Die Begegnungen mit deutschen Emigranten konfrontiert der Verlauf meiner Reportagereise auf den Spuren des Exils mit Interviews aus dem Berlin der Gegenwart, dem exponierten Außenposten des »untergehenden« Westdeutschland. Dieses Stimmen- und Stimmungskonzert Berliner Schnauzen begleitet, gewissermaßen als intellektueller »Chor«, die Reise in die Verlorengegangenheit. In dem knappen Dutzend Gesprächen, die ich mit West- und Ostberliner Künstlern, Kulturpolitikern und Wissenschaftlern über die Vergangenheit von Exil und Kulturvernichtung sowie die Chancen und Gefahren einer »vereinigten« Zukunft geführt habe, verschränken sich die Umwälzungen der Jahreswende 1932/33, als die deutsche Teilung begann, mit der »Revolution« von