Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth


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Interviews. Durch die Stadt wehte im Winter und Frühjahr 1990 ein frischer Wind, der den Mief der Mauerjahre zu verscheuchen schien: als habe das Leben einen Tritt bekommen und laufe nun schneller. Insofern sind die Gespräche auch Dokumente eines historischen Zustands, der nicht anhielt und nicht anhalten konnte. Unverändert gegenwärtig - da von der Geschichte nicht entschieden - sind jedoch die Themen der Interviews. In seiner Gesamtheit, für die der Berichterstatter nur begrenzt verantwortlich zeichnet, stellt der Chor Berliner Schnauzen eine kollektive Reflexion auf den gegenwärtigen Stand des Bewusstseins dar.

      Von ihm nimmt die Bildungsreise in die Geschichte der eigenen Kultur ihren Ausgang.

       10

      Novemberverbrechen • »Ich bin abends zu einer CDU-Freundin gegangen, und wir haben das bewusste Interview mit dem Schabowski im Fernsehen gesehen«, sagt Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der Volkskammer und amtierendes Staatsoberhaupt der DDR. Wir sitzen in ihrem Arbeitszimmer im Ostberliner Palast der Republik. Frau Bergmann-Pohl verstand Günther Schabowski so, wie er seine Auskünfte meinte: als relativ unverbindliche Absichtserklärung, als Wechsel auf zukünftige Erleichterungen: »Privatreisen nach dem Ausland können«, sagte der SED-Sprecher und Krenz-Vertraute um 19 Uhr wörtlich, »beantragt werden. Reiseerlaubnisse werden kurzfristig erteilt.« Nicht mehr und nicht weniger.

      »Ich bin ziemlich spät nach Hause gekommen«, erzählt die Präsidentin weiter, »mein Mann hat Fußball gesehen. Im Schlafzimmer steht auch ein Apparat, und ich bin davor eingeschlafen. Irgendwann wurde ich wach und habe gedacht: Was ist denn da im Fernsehen los? Ein Theater! Aber ich war im ersten Schlaf und hab‹ ausgeschaltet. Am nächsten Morgen sagt mein Sohn zu mir: ›Oma hat in der Nacht angerufen, aber ich hatte keene Lust euch zu wecken.‹ Halb sieben morgens rufe ich sie also an. Sagt sie: ›Die Mauer ist auf.‹ Ich: ›Du spinnst!‹ Sie: ›Ich war selbst da.‹ Meine Schwiegermutter ist fünfundsiebzig! Die war spontan losgefahren. Erst langsam wurde mir klar, das ist eine Sache, die kein Mensch vorausgesehen hat. Die Leute haben diese Pressemitteilung missverstanden, sind losgerannt, und die an der Grenze wussten sich keine andere Wahl mehr und haben gesagt: ›Na, nun machen wir das Ding auf.‹«

       An diesem verhangenen, fast milden Novembertag waren die Straßen schwarz von Menschen, ein wogender Ozean von Leibern. Niemand hat die Demonstranten gezählt, aber die Augenzeugen sprechen von Hunderttausenden. Alle waren darauf gefasst, in die Maschinengewehrsalven der Armee zu marschieren. Die Männer in den vorderen Reihen trugen an langen Stangen befestigte Pappschilder: »Brüder, nicht schießen!« - »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Monarchie!« - »Wir wollen Frieden und Brot!« Rote Papiernelken, Rosetten und Bänder, die von fliegenden Händlern angeboten wurden, fanden reißenden Absatz. In den hinteren Reihen aber gingen auch viele Bewaffnete mit.

       Und dann geschah - nichts. Die Soldaten öffneten die Kasernentore und liefen zu den Aufständischen über, die Polizisten im Alexanderplatz-Präsidium schnallten ihre Waffen ab. Verblüfft bildeten die Demonstranten Gassen, damit die Ordnungshüter unbehelligt nach Hause gehen konnten.

       Am frühen Nachmittag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, den die Menge bei einer wässrigen Kartoffelsuppe störte, von einem Fenster des Reichstags: »Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik!«

       Als SPD-Chef Friedrich Ebert, der seine Suppe derweil weitergelöffelt hatte, von Scheidemanns Tat hörte, reagierte er äußerst wütend auf die unvorschriftsmäßige Eigenmächtigkeit. Fast zufällig und gleichsam um Entschuldigung bittend war die Republik ins Leben getreten - beim ersten Mal jedenfalls.

       Denn um halb fünf unternahm um die Ecke vom Reichstag Karl Liebknecht, der Führer der Kommunisten, eine Reprise: »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Das Alte ist nicht mehr. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.« Liebknecht wies auf das Hauptportal des Berliner Schlosses und rief mit erhobener Stimme: »Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!«

       Im Nachmittagswind flatterte sie dann von zahllosen Dächern der Reichshauptstadt: vom Brandenburger Tor, vom Marstall und vom Kronprinzenpalais. Diese Gebäude hatte das Volk dem Schutze der Revolution unterstellt. Bewaffnete Arbeiter hielten Wache.

       Zugleich aber machte sich so etwas wie Ratlosigkeit breit. Was war nun noch zu tun? Zielloses Gedränge bestimmte den Abend, Verbrüderung, gedämpfte Volksfeststimmung. 92

      »Da«, sagt Sabine Bergmann-Pohl und deutet auf ein links gelegenes Stück Fassade, das beim Abriss des Schlosses durch die SED-Regierung verschont wurde: »Von dem Balkon aus hat am 9. November 1918 Karl Liebknecht die Republik ausgerufen. Dort ist jetzt mein Amtssitz als amtierender Ministerpräsident.«

       Kurz nach elf Uhr am Vormittag des 9. November - es war der Jahrestag von Napoleons Staatsstreich im Brumaire des Jahres 1799 - zogen zwei- bis dreitausend Mann vom Bürgerbräukeller am Südufer der Isar in Richtung Stadtmitte. Adolf Hitler marschierte in der ersten Reihe, mit ihm General Ludendorff und Hermann Göring. Die meisten Männer waren bewaffnet, Hitler selbst hielt eine Pistole in der Hand. Nur die Anführer wussten, dass damit ein letzter verzweifelter Versuch unternommen wurde, durch Bluff den schon fehlgeschlagenen Putsch doch noch in einen Sieg zu verwandeln.

       In den Straßen drängten sich die Menschenmassen. Als der Zug die Ludwigbrücke erreicht hatte, lief einer der Nationalsozialisten voraus und rief dem Polizeioffizier zu: »Nicht schießen! Ludendorff und Hitler kommen!« Gleichzeitig schrie Hitler: »Ergebt euch!«

       In diesem Augenblick fiel ein Schuss, und gleich darauf fegte ein Hagel von Geschossen über die Straße. Als erster wurde ein Mann getroffen, der mit Adolf Hitler Arm in Arm gegangen war. Hitler fiel, entweder von seinem Begleiter mit herabgezogen oder Deckung suchend.

       Alles war in Verwirrung, ein Nazi-Führer lehnte sich gegen eine Hauswand und weinte hysterisch. Die Mehrheit der Prominenz, Hitler vorneweg, floh im Feuer. Nur Göring und ein anderer Nazi-Führer wurden verletzt. Die übrigen Verwundeten und auch die sechzehn toten Putschisten hatten sich auf dem Marsch in den hinteren Reihen befunden. Sie waren den Schüssen der Polizei ausgesetzt gewesen, weil ihre Führer sofort Deckung gesucht hatten. 93

      Es ist kurz nach elf, Donnerstagabend. Ich liege im Bett und vergnüge mich damit, durch die Fernsehkanäle zu flippen. Eine Sondermeldung unterbricht das Programm von AFN, dem amerikanischen Militärsender: Die Mauer sei gefallen. In den ZDF-Nachrichten ist davon keineswegs die Rede gewesen. Die Amis haben mal wieder alles falsch verstanden. Außenpolitik fünf. Fleißig, aber untalentiert, man kennt das.

      Im Dritten läuft eine Talkshow, die meine Programmzeitschrift nicht verzeichnet. Der Moderator scheint leicht angeshakert. Einer der Gäste ist der Berliner Bürgermeister Momper, und der erhebt sich jetzt, beim x-ten Drüberflippen, gerade von seinem Stuhl. Ein Skandal!? Ich flippe zurück.

      Der Gesprächsleiter nuschelt irgend etwas von Verständnis für die Situation. Momper sagt, er müsse zu den Übergängen, da sei die Hölle los.

      Ich stehe auf, ziehe mich an und mache mich auf den Weg. Die nächstgelegene Kontrollstelle ist die Invalidenstraße.

       »Berlin Nr. 234404 9.11.2355 - An alle Stapo-Stellen und Stapo-Leitstellen / An Leiter oder Stellvertreter ... Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20000-30000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht. ... Gestapo II Müller.« 94

       Stunden später, am Abend des 9. November 1938, polterte ein SA-Scharführer in das Schlafzimmer einer jüdischen Familie. Dr. Goldstein und seine Frau standen, aufgeschreckt durch den Lärm und die Auseinandersetzung vor der Tür, schon neben ihren Betten.


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