Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
Jürgens, Gert Fröbe und Bernhard Wicki.
»Ich möchte nicht«, sagt Paul Kohner, als ich mich verabschieden will, »dass unser Gespräch traurig endet.« Er lacht verschmitzt. »Ich kenne das nämlich schon. Die Leute hören sich an, was ich zu erzählen habe, und hinterher denken sie, ich wäre ein trauriger Mensch. Dabei ist alles ziemlich lange her, und außerdem waren auch die verzweifeltsten Flüchtlinge nicht den ganzen lieben langen Tag traurig.«
Der alte Mann geht zu seinem Schreibtisch und greift zielsicher in einen der Papierstapel.
»Deshalb habe ich von zu Hause etwas mitgebracht, ein Gedicht, das Anfang der vierziger Jahre ein Emigrant für mich geschrieben hat. Der Verfasser nannte sich Osso van Eyss, das Gedicht heißt ›Zweisilbige Ballade‹, und wenn Sie es mir erlauben, möchte ich das jetzt vorlesen ...«
Paul Kohner setzt sich vor dem Plakat zu »SOS Eisberg« in Positur, Ernst Udets überlebensgroßer wilder Schopf und Leni Riefenstahls theatralisch-entschlossene Miene überragen ihn um einen Kopf. Mit amüsierter Stimme beginnt er zu deklamieren: »Der A- / donis / Kohn hieß. / Viele / schwüle / Ziele / hatt' er, / da der / Vorhang / vor hang ... / Tiefer / griff er / in den / linden, / harten, / zarten / Dusen- / Busen / Misses / Lissies / Und die / Gundie / presst er / fester, / haschte, / naschte / süße / Küsse, / zwickte, / drückte / ihre / Niere ... / Später / brach er / auf dann, / kauft dann / bei dem / Seiden- / Schneider / Kleider, / Rosen, / Dosen, / Zipper- / Slipper, / Tanzschuh, / Handschuh, / Reitdress, / Nightdress ... / Ein Kohn - / kein Kohn ...«
Nachtrag. Den Optionsvertrag, mit dem er das Archiv in seinem Keller nicht an eine der zahlreichen amerikanischen Universitäten verkaufte, die sich um den Schatz vom Sunset Boulevard bemühten, sondern an die Berliner Kinemathek, hat Paul Kohner im Dezember 1987, zweieinhalb Jahre nach unserem Treffen, in seinem Büro unterschrieben. Bevor es allerdings zu der geplanten feierlichen Übergabe in Westberlin kommen konnte, erhielt ich Post, »from another Paul Kohner client«:
»Der 20. März 1988 war ein strahlend schöner Frühlingssonntag, wie er kalifornischer nicht geht«, schrieb der Schauspieler und Rockmusiker Reiner Schoene: »Wer sich der Aussegnungshalle des Jewish Hillside Memorial Cemetery näherte, hörte beerdigungsuntypische Klänge, nämlich Wiener-Walzer-Dreiviertel-Takte. Eher heiter. Neben dem Sarg stand eine amerikanische Flagge aus blauen, weißen und roten Nelken, als wehende Fahne arrangiert. Erst dachten wir: Das ist die hauseigene Flagge; aber dann wurde dieses starspangled banner mit zum Grabe getragen, es war also speziell für Paul Kohner ge-ikebanat worden. Den Patriotismus der alten Immigranten finde ich allerdings sehr verständlich. Amerika war ja, mehr als wir es uns heute vorstellen können, die NEUE HEIMAT ...
In der Halle, rundum vier gläserne Wände, nebenan der San-Diego-Freeway, der 405er, gab's dann vier Reden: ein Journalist von der Los Angeles Times sprach, danach Gary Salt, der neue Agentur-Owner, und zum Schluss Kohners Kinder Pancho und Susan. Auch eher heiter. Wenn man Paul nicht sehr gut gekannt hatte, jetzt lernte man ihn kennen. In der Trauergemeinde saßen reichlich deutsche und österreichische Altemigranten. Viele Yamakas auf den Häuptern. Unter den sechs Sargträgern waren Billy Wilder und Charles Bronson ...
Während wir an Walter Kohner, dem letzten der drei Kohner brothers, und der gesamten family vorbeischritten, Hände drückten und Worte sagten, spielte »La Paloma«. Es war eine würdevolle und angemessene Feier, aber eben auch eine ungewöhnlich heitere. Ein Mann trat seine letzte Reise an, der ein langes, erfolgreiches Leben gelebt hatte, you know, nicht wahr ...«
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Bildungsreise • Die Flucht aus Deutschland, quer durch die Alte und in die Neue Welt - das war doch keine Bildungsreise! Was denn? Bürgerliche Bildungsreisen führten nicht in exotische Gebiete; darin blieben sie der adligen Kavalierstour gleich,78 von deren Nachahmung sie ausgingen. Neues zu erforschen, war den staatlich geförderten Eroberungs- und Entdeckungsfahrten reserviert, mit denen sich Europa den Rest der Welt unterwarf. Auf der Bildungsreise hingegen, wie sie im deutschen Sprachraum während des 18. Jahrhunderts zur Institution wurde, sollte vom jugendlichen Individuum lange Bekanntes »erfahren« werden: Italien oder weitestenfalls Griechenland. Und auch in diesen Zielländern galt das Interesse kaum dem, was sie vom Herkunftsland unterschied, dem Volksleben und der Folklore. Die Ablenkung vom eigenen Alltag, die als Motiv hinter dem Massentourismus von heute steht, vermerkte das Konzept der Bildungsreise - gewiss nicht selten im Gegensatz zu ihrem realen Verlauf - als unerwünschte Begleiterscheinung.
Die weitgehende Missachtung, die der lokalen Gegenwart der besuchten Gebiete entgegengebracht wurde, bedeutete jedoch keineswegs, dass die Bildungsreisenden archäologische Studienfahrten angetreten hätten. Ihr Interesse war nur begrenzt historisch. Vorrangig sollte nicht einem Mangel an geschichtlichem Wissen, sondern einem höchst aktuellen Bedürfnis nach Orientierung abgeholfen werden.
Die Reisenden, Pilger eines aufgeklärten Kultes, beziehungsweise ihre zahlenden Eltern erhofften nicht allein den Zuwachs an Kenntnissen. Angestrebt war eine Art weltlicher Erleuchtung, eine drastische Vollendung der bürgerlichen Persönlichkeit.79 Die Wallfahrt zu den steinernen Überresten der Antike beabsichtigte das Nach-Erlebnis von Bildung. Idealiter strebte man ein besseres Verständnis der eigenen Standards an. Einer Initiation gleich, sollte die Bildungsreise die Einpassung des Nachwuchses in die gesellschaftlichen Verhältnisse vollenden. An ihrem Ziel wurden daher die historischen Orte jener Kultur aufgesucht, als deren legitime Nachfahren sich die Bürger wähnten und in deren Tradition sie die Nachkommen einführen wollten. Die Ruinen der vergangenen Epoche dienten lediglich als Kulisse, in der die gewünschte Vergegenwärtigung klassischer Kultur stattfinden konnte - wie man diese selbst für den geistigen Hintergrund nahm, vor dem sich das Drama der Gegenwart abspielte. Das Konzept der Bildungsreise zielte so letztlich weniger auf die Überwindung einer räumlichen als einer zeitlichen Entfernung. Das Moment der Rückübersetzung, der Regression auf eine aufklärerisch bereits überwundene Raum-Zeit-Konstellation, ist darin zu erkennen. »Mühselig und widerruflich«, schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Interpretation der frühesten aller beschriebenen Selbst-Festigungsfahrten, der Abenteuer des Odysseus, »löst sich im Bild der Reise historische Zeit ab aus dem Raum, dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit.«80
Diesen Prozess machten die Bildungsreisen gewissermaßen rückgängig, indem ihr Konzept epochale Distanz, da prinzipiell unaufhebbar, in den Raum als geographische, also überwindbare Entfernung projizierte: An den Entstehungsorten der klassischen Kultur sollte dem Nachwuchs-Subjekt, das in ihrem Geiste erzogen wurde, die gegenwärtige Erfahrung des vergangenen Ursprungs gelingen.
In dem existentiellen Sinn, den sie so stiftet, erweist sich die Institution der bürgerlichen Bildungsreise als ein Spezialfall der grundsätzlich engen Verschlingung von Erkenntnis und Mobilität. Denn in der Reise hat das moderne Individuum die zentrale Metapher für seinen Weg durch die Welt gefunden, einen Weg, der mit jedem Schritt vorwärts näher heranführt an die verschütteten Möglichkeiten der eigenen Herkunft.
Die Flucht aus Deutschland, den Irrweg quer durch Europa, der schließlich in den USA endete, als die moderne Variante einer Bildungsreise zu behaupten, mutet zynisch an. Und doch legen Hunderte von Autobiographien Zeugnis ab von der Nachhaltigkeit der »negativen Bildungserlebnisse«, die Vertreibung und Flucht erzeugten, aber auch von den »positiven«, die bisweilen der erzwungene Kontakt mit fremden Lebens- und Denkweisen mit sich brachte.
»Eine Welt, die Welt meiner Kindheit, meiner Jugendjahre, die Welt des Rechts, der Moral, der Achtung vor dem Nächsten war zusammengebrochen«, schrieb Gottfried Bermann Fischer.81 Bei Elsbeth Weichmann, der Frau des sozialdemokratischen Politikers und späteren Hamburger Bürgermeisters Herbert Weichmann, heißt es: »Mit der Emigration war auch ein Weltbild zusammengebrochen ... Das Menschenbild, an das wir geglaubt hatten, war zerstört.«82 Und Adorno resümierte in seinen Exil-»Reflexionen aus dem beschädigten Leben«: »Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen ... Enteignet ist seine Sprache und abgegraben seine geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog.«83
Ebenso