Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth


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Fenster und schaut hinunter auf den menschenleeren und autovollen Theodor-Heuß-Platz. »Ein vereinigtes Deutschland hätte allen Grund, sich auf seine antifaschistischen demokratischen Traditionen zu besinnen. Vielleicht werden die Leute von drüben dafür eine geschärfte Sensibilität mitbringen. Von denen könnten wir lernen, was für tolle Leute nach Moskau emigriert sind, um die wir uns bisher nicht gekümmert haben. Und die Ostdeutschen werden lernen müssen, welche tollen Leute in die USA gegangen sind, von denen sie bis jetzt nichts wissen durften.« Gandert dreht sich herum und sieht mich an. »Achtzig Prozent meiner Freunde sind heute zwischen fünfundsiebzig und neunzig Jahre alt, Emigranten, die alle demnächst tot sein werden. Die Begegnung mit ihnen hat mein Leben verändert, hat ihm eine neue Dimension gegeben. Wenn mich jemand fragt, sage ich immer: Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit wie man bei den exilierten deutschen Juden antrifft, kann man in Deutschland mit der Laterne suchen ...«

       7

       »Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht sich unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen.« 76

      Café Kohner • Die Klimaanlage brummt lauter denn je. Auf den Fenstern steht die Nachmittagssonne. Unsere Sandwichs haben wir aufgegessen und dazu viel wunderbar wässrigen amerikanischen Kaffee getrunken.

      »Seit fünfzig Jahren ist John Huston mein Klient, ich mag ihn sehr, er ist ein wunderbarer Mann. Nie haben wir einen Vertrag geschlossen, das läuft alles auf Handschlag.« Paul Kohner sitzt an dem kleinen Tisch im hinteren Teil des Büros. »Als ich John kennenlernte, war er noch Schriftsteller«, sagt er, »und Schriftsteller gab es damals in Hollywood eine unerhörte Menge! Vor allem Europäer.«

      Zu dieser Vielfalt hat Paul Kohner selbst nicht unwesentlich beigetragen. Als Ende 1939 die Nachrichten von der verzweifelten Lage der in Südfrankreich von den Nazis eingekesselten Autoren - darunter Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Walter Mehring und Heinrich Mann - nach Kalifornien drangen, überredete Kohner persönlich die Bosse der vier größten Produktionsfirmen, den in der Regel filmunerfahrenen Schriftstellern sogenannte »Notverträge« zu geben. Diese Anstellungen waren zwar auf ein Jahr beschränkt und äußerst niedrig dotiert. Durch sie gelangten die Flüchtlinge jedoch in den Besitz der lebensrettenden amerikanischen Einreisevisen. Sie wiederum ermöglichten die Ausreise aus Frankreich und den Transit durch Franco-Spanien und Portugal.77 Paul Kohner half so entscheidend mit, einen nicht unerheblichen Teil der deutschsprachigen literarischen Elite vor KZ und Vernichtung zu retten.

      »Ich ging zu MGM, zu Louis B. Mayer«, erzählt der alte Mann, »und erklärte ihm unseren Plan: ›Wenn Sie bereit sind, in der Woche für zehn Schriftsteller je hundert Dollar zu geben, bekommen Sie die Leute für zweiundfünfzigtausend Dollar im Jahr. Was immer die auch schreiben, gehört Ihnen. Wenn Sie nur ein oder zwei Manuskripte davon gebrauchen können, haben Sie schon das ganze Geld wieder rein.‹ Mayer hat gleich zugesagt. Dann ging ich weiter zu Warner Brothers, zu Fox und zur Columbia. Da saß der Harry Cohn, der war der schwierigste: ›Ach, ich nehme nur fünf Schriftsteller‹, sagte der. Sagte ich: ›Du bekommst zehn oder gar keinen.‹ Auf die Art haben wir damals vierzig deutsche, ungarische, österreichische Schriftsteller in den Studios untergebracht.«

      Es ist inzwischen früher Nachmittag, und Paul Kohner macht einen leicht erschöpften Eindruck. Doch das Erzähltalent des alten Herrn lässt sich von physischer Schwäche nicht beeindrucken. Amüsiert erinnert er sich, wie Thomas Mann ein Jahr lang kein Wort mit ihm gesprochen hat, weil der oberste Dichterfürst dieses Neuen Weimar am Pazifik zu der Feier von Albert Bassermanns achtzigstem Geburtstag nicht eingeladen worden war, die in Kohners Haus stattfand. Ein paar Minuten später höre ich von einem Treffen mit dem mysteriösen Klienten, der B. Traven war, sich aber als dessen Cousin ausgab; kurz darauf von den Begegnungen mit Bert Brecht, der Kohner nie recht geheuer erschien.

      »Paul Kohners freundlich-helle Agentur am Sunset Boulevard«, schrieb die New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau am 4. Oktober 1940 in einer Hollywood-Reportage, »ist von morgens bis abends eine Art Treffpunkt der Träger all jener Namen, die einst in fetten Lettern die Feuilletons und Theaternachrichten Deutschlands, Oesterreichs, Ungarns und der Tschechoslowakei, ja zum Teil auch die von Paris und London zierten.«

      »Einmal habe ich die Deutschen dann wunderbar bestohlen«, freut sich Kohner, »das war eine gute Tat, schließlich hatten wir ja Krieg.«

      Mit weiten Gesten beschreibt er, wie eines Morgens Nelly Mann zu ihm kam und ihn um Hilfe für ihren Ehemann bat, der mittellos und abhängig von den Unterstützungen seines Bruders Thomas in Hollywood lebte: Heinrich Mann sei kurz davor, sich das Leben zu nehmen! Der Autor des »Professor Unrat«!

      »Natürlich hatte er alle Rechte an dem Roman längst verkauft. Aber wer wollte das in diesen Zeiten nachprüfen? Also haben wir einen Vertrag geschlossen, über ein mexikanisches Remake des ›blauen Engel‹.«

      Ob der Film gedreht wurde? Kohner wendet die Handflächen nach außen und verzieht spöttisch die Mundwinkel: »Keine Ahnung. Aber Heinrich Mann konnte eine Weile von dem Geld existieren.«

      Ein Foto, das bei Gelegenheit des historischen Geschäftsabschlusses aufgenommen wurde, zeigt den jugendlichen Agenten an der Seite eines würdigen älteren Herrn, der sich aus dem 19. Jahrhundert in die Moderne verirrt zu haben scheint und - physiognomisch dem Professor Unrat gleichend - an Kohners kalifornischem Schreibtisch den Vertrag unterzeichnet.

      »Also hat er sich nicht das Leben genommen«, lacht Kohner, doch sein Gesicht wird sofort ernst: »Dafür wenig später die Nelly. Der konnte keiner mehr helfen.«

      »Wie wurde bestimmt, wer Unterstützung vom European Film Fund bekam und in welcher Höhe?«, frage ich.

      »Ach, das lief alles recht informell und problemlos ab«, sagt Kohner. »Wir trafen uns während des Krieges jedes Wochenende bei dem einen oder anderen in der Wohnung. Meistens bei uns zu Hause. Wir hatten einen richtigen Kaffeeklatsch. Da kam, wer kommen wollte. Das Haus war am Sonntag voll von Menschen. Meine Frau hat das natürlich nicht immer begeistert, aber es musste halt sein. Man trank seine Tasse Kaffee, aß seinen Kuchen, Pflaumenkuchen oder Krapfen, was es gerade gab, und unterhielt sich darüber, wer neu eingetroffen war, wer Hilfe nötig hatte.«

      Paul Kohner steht auf und geht mit weiten, steifen Schritten zwischen Schreibtisch und Besucherecke auf und ab.

      »Ob jemand verheiratet war, ob er Kinder hatte, davon hing eben die Höhe der Unterstützung ab. Gewöhnlich konnte man mit fünfundzwanzig Dollar in der Woche ganz gut auskommen. Damals kostete ein Burger im Hamburger Hamlet nebenan nur zehn Cents, nicht wahr ...«

      »Wie lange hat der Hilfsfond existiert?«

      »Den habe ich nie eingehen lassen«, sagt Kohner. »Warum auch? Hilfe brauchen irgendwelche Menschen immer.«

      Nach dem Ende des Krieges schickte der European Film Fund gar Geld nach Deutschland, etwa an die Schauspielerin Henny Porten, die in Not geraten war.

      »Wenn die Leute sich anständig verhalten hatten, als die Nazis kamen, haben wir das durchaus gemacht«, sagt Kohner. Er lässt, am Ende der kurzen Wanderung, sich leicht stöhnend in das Besuchersofa sinken. »Heute unterstützen wir ältere Filmleute hier in Kalifornien, das sind oft schon die Kinder der Emigranten von damals, viele ohne richtige Altersversorgung, nicht wahr ... Kein Vergleich natürlich zu den Kriegsjahren, da brauchten ja Hunderte Hilfe, manchmal war das ganze Büro voll mit Leuten, die einem die schrecklichsten Geschichten aus Europa erzählten ...«

      »Wann sind Sie das erste Mal nach dem Krieg wieder nach Deutschland gekommen?«

      »1951, und zwar widerwillig«, sagt Kohner, ohne überlegen zu müssen. »Ich wollte eigentlich keinem Deutschen die Hand reichen. Weil man nie wusste, was der während der Nazizeit gemacht hatte. Aber ich musste mein Geschäft weiterführen, und es gab schließlich auch einen Haufen anständige Leute.«

      Bis in die achtziger Jahre blieb Paul Kohner der Brücken-Kopf der deutschsprachigen Schauspieler und Regisseure in Hollywood. Zu seinen


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