Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
diesem Quatsch, zückte ich immer den Pass, da haben sie den Schwanz eingezogen und sind abgehauen. Außerdem, am Anfang hat man das alles nicht so ernst genommen.«
Doch die Zeit, zu der noch Amüsement über die Dummheit und Borniertheit des Gegners möglich war, ging schnell vorbei. Mochten die Nazis nicht besonders helle sein, für Brutalitäten und Mord reichte es allemal. Der Schrecken, den sie verbreiteten, eskalierte von Woche zu Woche - und zeigte Wirkungen über den Straßenterror hinaus. Kleine wie große Firmen begannen vorsichtig, ihren »nicht-arischen« Personalbestand abzubauen, viele jüdische Deutsche mussten erleben, dass gute Bekannte und Freunde sie nicht mehr kennen wollten.52 Die endgültige Wende brachte dann der 30. Januar 1933.
»Nach der Machtübernahme haben wir fürchterliche Sachen gesehen, soviel Gewalt. Einmal sind meine Frau und ich abends mit der U-Bahn nach Hause gefahren, da haben draußen auf einem Bahnsteig Nazis in Uniform auf zwei orthodoxe Juden eingeschlagen. Es war entsetzlich. Jeder hat so etwas mit anschauen müssen.«
»Wie lange blieben Sie in Berlin?«
»Am 1. April 1933 bin ich abgereist, an dem fürchterlichen antijüdischen Aktionstag.53 Man ist durch Scherbenhaufen gegangen, und wo die Fensterscheiben noch heil waren, da stand ›Juda verrecke‹, ›Kauft nicht bei Juden‹, es war widerlich. Überall Uniformen, und überall haben sie Leute zusammengeschlagen.«
»Können Sie ...«
»Ich will darüber nicht weiter sprechen«, sagt Kohner. Einen Augenblick sitzen wir schweigend da.
Bereits am frühen Morgen des Freitag sah man die SA mit ihren Transparenten durch die Stadt ziehen. »Die Juden sind unser Unglück«, »Gegen jüdische Greuelpropaganda im Auslande«. In den Vormittagsstunden begannen sich die Posten der Nazis vor die jüdischen Geschäfte und Betriebe zu stellen, und jeder Käufer wurde darauf aufmerksam gemacht, nicht bei Juden zu kaufen. Auch vor unserem Lokal postierten sich zwei junge Nazis und hinderten Kunden am Eintritt. Mir erschien das Ganze unbegreiflich. Es konnte mir nicht einleuchten, dass so etwas im 20. Jahrhundert überhaupt möglich sein konnte, denn solche Dinge hatten sich doch höchstens im Mittelalter ereignet ... Und für dieses Volk hatten wir jungen Juden einst im Schützengraben in Kälte und Regen gestanden und haben unser Blut vergossen, um das Land vor dem Feind zu schützen. Gab es keinen Kameraden mehr aus dieser Zeit, den dieses Treiben anekelte? Da sah man sie auf der Straße vorübergehen, darunter gar viele, denen man Gutes erwiesen hatte. Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, das ihre heimtückische Freude verriet. 54
»Wer sollte da noch bleiben?« Kohner macht eine abwehrende Geste, die sich gegen die Vergangenheit zu richten scheint. »Ich habe dann von Paris aus gearbeitet, Filme produziert in London, Budapest, Wien. Aber immer mal wieder musste ich zurück. Als Ausländer war ich der einzige, der die Geschäfte der Firma abwickeln konnte. Dabei habe ich versucht, möglichst viel von dem Besitz unserer Angestellten, von denen die meisten weggingen, mit rauszuschmuggeln; Geld und Juwelen. Leider gab es einige, die geblieben sind, weil sie einfach nicht glauben wollten, was passieren würde. Manchmal ging es mir selbst so. Als ich 1935 zurück nach Amerika sollte, bekam ich eine wunderbare Offerte von der Ufa ...«
»Als Jude ...?« unterbreche ich ihn erstaunt.
»Ach, die haben gemeint, das regeln wir schon alles, ich bräuchte keine Angst zu haben ... Die wollten halt jemanden, der sich auskannte. Jedenfalls, in einer schwachen Stunde habe ich überlegt, ob ich nicht vielleicht ... Berlin war so großartig ... Doch da hat meine Frau gesagt: ›Ohne mich.‹« Kohner schüttelt den Kopf und seine Augen scheinen durch mich hindurchzusehen: »Gott sei Dank hat meine Frau sich damals geweigert!«
Abrupt schlägt er beide Hände ineinander. Ich zucke erschrocken zusammen, so sehr hatten Kohners Erzählungen die Gegenwart verdrängt und die Vergangenheit heraufbeschworen.
»Entschuldigen Sie«, sagt er, »aber jetzt brauchen wir etwas zu trinken und ein Sandwich. Anders lassen sich diese Geschichten nicht mehr aushalten.«
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»Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit wie man bei den emigrierten deutschen Juden antrifft, kann man in Deutschland mit der Laterne suchen ...« 55
Eine Kultur wandert aus • Hunderttausende56 mussten Deutschland verlassen, als die Nazis 1933 ihre blutige Jagd begannen.57 Auch die Elite der deutschen Kultur rettete sich ins Exil. Ein in der deutschen Geschichte einmaliger Exodus an Talent und Wissen, an Erfahrungen und an handwerklichem Können setzte ein. Kaum ein Schriftsteller von Rang mochte den Nazis dienen; die künstlerische Avantgarde floh den Zensurterror, die Bauhäusler ebenso wie die Neutöner; die Teams ganzer Filmproduktionen fanden sich fast vollständig in Hollywood ein, komplette Forschungsinstitute siedelten in die USA um, über die Hälfte aller Ordinarien emigrierte, unter den dreitausend Spitzenwissenschaftlern, die Deutschland den Rücken kehrten, waren allein vierundzwanzig Nobelpreisträger.
Die Namensliste derer, die das Exil der Unterwerfung unter das NS-Regime vorzogen oder die von den Nazis verjagt wurden, liest sich wie ein »Who was who?« der deutschsprachigen Intelligenz. Nur in Gestalt eines Lexikons ließe sich diese unfreiwillige »Bewegung« adäquat erfassen. Bemerkenswert an einem solchen Kompendium wäre, dass es mit gleichem Recht zwei gänzlich verschiedene Titel tragen könnte. Etwa: »Die Anti-Nazi-Emigration 1930-50« oder »Kulturfahrplan 1930-50«.
Denn mag die Liste der gebildeten Emigranten, die aus politischen Gründen das Land verlassen mussten, auch zu keiner Zeit kurz gewesen sein, für die kürzesten tausend Jahre, die Deutschland bislang erlebte, ist sie gewiß am längsten. Anders als in früheren Zeiten politischer Repression emigrierten vor dem deutschen Faschismus nicht nur einzelne Intellektuelle und Künstler - eine ganze Kultur wanderte aus.
In ein Lexikon der Exilanten aus dem deutschsprachigen Kulturraum, die während der dreißiger und vierziger Jahre in den USA lebten, wären - neben vielen anderen - aufzunehmen die:
– Schriftsteller / Drehbuchautoren / Verleger: Raoul Auernheimer, Vicki Baum, Richard Beer-Hofmann, Franz Blei, Bert Brecht, Hermann Broch, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, Lion Feuchtwanger, Gottfried Bermann Fischer, Bruno Frank, Leonhard Frank, George Froeschel, Curt Goetz, Claire Goll, Ivan Goll, Oskar Maria Graf, Martin Gumpert, Hans Habe, Wieland Herzfelde, Stefan Heym, Felix Jackson (i.e. Joachimson), Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten, Frederick Kohner, Annette Kolb, Fritz H. Landshoff, Leo Lania, Stefan Lorant, Emil Ludwig, Erika Mann, Heinrich Mann, Klaus Mann, Thomas Mann, Hans Marchwitza, Ludwig Marcuse, Walter Mehring, Franz Molnar, Alfred Neumann, Hertha Pauli, Alfred Polgar, Walter Reisch, Erich Maria Remarque, Curt Riess, Roda Roda, Hans Sahl, Curt Siodmak, Robert Thoeren, Ernst Toller, Friedrich Torberg, Franz Ullstein, Hermann Ullstein, Fritz von Unruh, Berthold Viertel, Salka Viertel, Karl Vollmoeller, Franz Carl Weiskopf, Franz Werfel, Kurt Wolff, Carl Zuckmayer;
– Bildenden Künstler / Fotografen / Architekten: Josef Albers, Max Beckmann, Erwin Blumenfeldt, Alfred Eisenstaedt, Max Ernst, Lyonel Feininger, Walter Gropius, George Grosz, André Kertesz, Ludwig Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Martin Munkacsi;
Komponisten / Dirigenten / Virtuosen: Béla Bartók, Paul Dessau, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Friedrich Hollaender, Wladimir Horowitz, Emmerich Kálmán, Erich Kleiber, Otto Klemperer, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek, Artur Schnabel, Arnold Schönberg, Rudolf Serkin, Max Steiner, Robert Stolz, Ernst Toch, Bruno Walter, Franz Waxman (i.e. Wachsmann), Kurt Weill;
– Theater- und Filmregisseure / Produzenten: Curtis (i.e. Kurt) Bernhardt, Erich Charell, Michael Curtiz (i.e. Kertész), Paul Czinner, Paul Falkenberg, Leopold Jessner, Paul Kohner, Fritz Kortner, Henry Koster (i.e. Hermann Kosterlitz), Fritz Lang, Anatole Litvak, Ernst Lubitsch, Max Ophüls, Gerd Oswald, Richard Oswald, Erwin Piscator, Erich Pommer, John Pommer, Otto Preminger, Arnold Pressburger, Gottfried Reinhardt, Max Reinhardt, Wolfgang Reinhardt, Robert Siodmak, Douglas Sirk (i.e. Detlef Sierck), Samuel P. Spiegel, Erich von Stroheim, William Thiele, Billy Wilder, William Wyler, Fred Zinnemann;
– Sänger / Schauspieler: Gitta Alpar,