Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth


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Valeska Gert, Alexander Granach, Dolly Haas, Ludwig Hardt, Lilian Harvey, Paul Henreid (i.e. von Hernried), Oskar Homolka, Jan Kiepura, Martin Kosleck, Hedy Lamarr (i.e. Hedwig Kiesler), Francis Lederer, Lotte Lenya, Peter Lorre, Fritzi Massary, Grete Mosheim, Lotte Palfi, Luise Rainer, Ludwig Stoessel, Szöke Szakall, Helene Thimig, Hans Heinrich von Twardowski, Conrad Veidt, Helene Weigel, Wolfgang Zilzer;

      – Geistes- und Naturwissenschaftler: Theodor W. Adorno, Richard Alewyn, Günther Anders, Hannah Arendt, Hans Bethe, Bruno Bettelheim, Ernst Bloch, Ernst Cassirer, Albert Einstein, Erik Erikson, Walther Friedlaender, Erich Fromm, Peter Gay, Hans Gerth, Kurt Goedel, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Paul Lazarsfeld, Leo Löwenthal, Golo Mann, Herbert Marcuse, Ludwig Marcuse, Franz Neumann, Johann von Neumann, Henry Pachter, Erwin Panofsky, Kurt Pinthus, Wilhelm Reich, Hans Reichenbach, Leo Szilard, Edward Teller, Paul Tillich, Max Wertheimer, Karl August Wittfogel.

      Über die weitreichenden Folgen der Vertreibung aus Deutschland und Europa urteilte Thomas Mann bereits 1941 ebenso selbstbewusst wie klarsichtig: Dieser Kultur-Exodus bedeute »eine neuartige Form des Exils, wesentlich verschieden von früheren dem Sinne nach; es hat direkt zu tun mit der Auflösung der Nationen und der Vereinheitlichung der Welt. Ich bin einfach ›bedeutender‹ als die in Deutschland sitzen gebliebenen Esel, die mich für eine verlorene Existenz halten.«58

      Nicht anders beschrieb Theodor W. Adorno, ebenfalls aus der klaren Perspektive des Emigranten, kurz nach dem Ende des deutschen Faschismus dessen Hinterlassenschaft: »Dem Dritten Reich ist kein Kunstwerk, kein gedankliches Gebilde gelungen, dass auch nur der armseligen liberalistischen Forderung nach ›Niveau‹ hätte Genüge tun können. Der Abbau der Humanität und die Konservierung der Geistesgüter waren so wenig vereinbar wie Luftschutzkeller und Storchennest, und die kämpferisch erneuerte Kultur sah schon am ersten Tag aus wie die Städte an ihrem letzten, ein Schutthaufen.«

      Aber nicht allein die künstlerische und intellektuelle Elite ging der deutschen Kultur verloren. Vernichtet wurde ebenfalls das Publikum, das in Berlin den sozialen Nährboden der Weimarer Avantgarde gebildet hatte. Ohne den finanziellen wie ideologischen Rückhalt in dieser großstädtischen Schicht eines »geistigen Mittelstandes«, in der jüdische Deutsche einen überproportional hohen Anteil stellten, hätte es zur vielgerühmten »kulturellen Blüte«, zu der breiten Entfaltung des Literatur- und Theater-, Film- und Musiklebens nicht kommen können.60 Der Exodus der »unbekannten Emigranten« war daher von nicht minder verheerender Wirkung. In welch hohem Maße das soziale Umfeld Quantität wie Qualität der kulturellen Produktivität mitbestimmte, wurde spätestens durch seinen Verlust deutlich: in den Mangelerscheinungen des Exils ebenso wie später, nach dem Ende des Faschismus, in der Vielzahl vergeblicher Versuche, den Bann des herbeigemordeten Provinzialismus zu brechen.

      Was für die Zeitgenossen hunderttausendfaches Scheitern von Lebensplänen bedeutete, Verfolgung, Leiden, Lebensgefahr und nur zu oft Tod, stellt sich unter der Perspektive einer vergleichsweise unbeteiligten Nachwelt - auch - als Teil eines breiten »Kulturaustauschs« dar, der den deutschen Verlust in anderen Teilen der Welt als Gewinn erscheinen lässt.

      Die meisten Flüchtlinge blieben zunächst im europäischen Ausland, in Paris und Wien, Prag und London. Überraschend wenige zogen auf Anhieb die USA in Betracht. Man wollte nicht allzu weit von Deutschland fort. Denn dass der »braune Spuk« lange andauern könnte, mochte kaum einer glauben.

      »Wenn ich die Hoffnung aufgegeben hätte, wär ich schon in Amerika«, diese Ansicht äußerte Heinrich Mann noch 1938;61 ohne lebensbedrohende Not Abschied von Europa zu nehmen, kam ihm nicht in den Sinn.

      Doch der Vormarsch faschistischer Diktaturen machte keinen Halt - autoritäre Regimes herrschten Mitte der dreißiger Jahre außer in Deutschland und Italien bereits in Portugal, Griechenland, Polen, Jugoslawien, Bulgarien und Österreich. 1939, nach der Niederlage des republikanischen Spanien, waren elf europäische Staaten unter der Kontrolle faschistischer oder halbfaschistischer Regierungen.62 Kurz darauf begannen Hitlers Armeen, in deren Etappe die Gestapo reiste, die heimatlosen Flüchtlinge weiter vor sich herzutreiben, sie aus den wenigen noch freien Ländern der Alten Welt zu verjagen, aus der Tschechoslowakei und Dänemark, aus Holland und schließlich aus Frankreich - bis die Neue Welt, als hätten die faschistischen Jäger den konservativen Mythos von der Westwanderung der Kultur parodieren wollen, zur fast letzten Zuflucht wurde.

      Auch Heinrich Mann musste 1940, bald siebzigjährig, zu Fuß die Pyrenäen überqueren und sich nach Lissabon durchschlagen, weil Amerika zur einzigen Hoffnung geworden war, die er noch hegen konnte, als vom Nordkap bis Sizilien, von Amsterdam bis zum Ural die Totenkopf-Truppen wüteten.

      Zehntausende gelangten in die Vereinigten Staaten, bis 1941 die Falle Europa endgültig zuschnappte. Es war eine einzigartige Invasion von Geistesarbeitern.

      »Seit nach dem Fall von Konstantinopel im Jahr 1453 Gelehrte in großer Zahl nach Westeuropa geströmt waren«, schreibt der Literaturwissenschaftler James K. Lyon, »hatte die Welt keine so umfängliche, plötzliche Bereicherung einer Kultur auf Kosten einer anderen erlebt.«63

      Ein einziges Mal wurde, für die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches«, der Einfluss der deutschen Kultur auf die USA größer als umgekehrt. Der Zugewinn an geistigem Potential half, Rückständigkeit und puritanische Enge im amerikanischen Kulturleben zu überwinden, die noch in den zwanziger Jahren Schriftsteller wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald oder Henry Miller ins Pariser »Exil« geführt hatten.

      Die Aufnahme, die man der europäischen Elite in Amerika bereitete, schildert Tom Wolfe in seiner Tirade gegen das Bauhaus ironisch als triumphalen Einzug »weißer Götter«; ihrer Überlegenheit ergab sich die heimische Intelligenz, geplagt vom Kolonialkomplex, wehr- und willenlos: die Architektur wie die Malerei, die »ernste« Musik wie die Wissenschaften in toto, deren Prägung durch das Exil in einzelnen Disziplinen bis heute zu spüren ist.64

      Nicht minder groß wurde der Einfluss der Flüchtlinge auf die populäre US-Kultur, wobei hier jedoch nicht die Betonung des ganz Anderen, sondern eine Assimilation den Erfolg ausmachte, die es manchem der Ankömmlinge erlaubte, wohl ausgestattet mit europäischen Erfahrungen, »amerikanischer« zu produzieren, als born citizens selbst es vermochten. Zur Dominanz Hollywoods trugen Emigranten ebenso bei wie dazu, dass der amerikanische Journalismus dem deutschen und französischen den Rang ablief; ein Beispiel ist der kometenhafte Aufstieg der 1936 gegründeten Illustrierten Life, nach dem Vorbild der Münchner und der Berliner Illustrierten konzipiert.

      Das Ende der kulturellen Vorherrschaft Europas war nur ein kleiner Teil seines Niedergangs als politisches und wirtschaftliches Zentrum. »Hitler sei der beste Handlanger des Triumphes der amerikanischen Kultur«, spottete Claire Goll, die den Faschismus in New York überlebte.65 Und prophetisch klagte Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil, nach dem Krieg würden die Europäer nurmehr »Graeculi« sein, machtlos wie einst die gebildeten Griechen im römischen Weltreich.66

      Mitte der vierziger Jahre holte die Wirklichkeit diese Befürchtung ein: New York rückte unangefochten zur Finanzmetropole der westlichen Welt auf und auch zum Zentrum des Kunsthandels; Hollywood regierte unbestritten als kosmopolitische Filmhauptstadt; die US-Universitäten hatten sich in Kapitalen der Forschung verwandelt. In den USA und nicht länger in Europa lag von nun an das Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Fortschritts - nicht nur, aber vor allem dank der Emigranten.

      Verloren haben durch den Naziterror im historischen Saldo daher nicht allein die Hitler-Flüchtlinge ihre Heimat. dass die Einbuße für die Nachfolgestaaten des Dritten Reiches zu einem großen Teil irreversibel blieb, zeigte sich mit jedem Nachkriegsjahr deutlicher. Gegangen war »eine Minorität, von deren Verlust wir uns nie erholt haben«, wie Hans Magnus Enzensberger noch in den achtziger Jahren feststellte.67 Seit ihrem Bestehen ist die Bundesrepublik, auch darin Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, für die Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur mit Enge und Rückständigkeit gestraft. Eine Tradition war zerstört, die sich nicht so umstandslos wieder instandsetzen ließ wie die zerbombten Innenstädte. Anders als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs fehlten nach der Befreiung vom Naziregime zu viele Köpfe für einen auch intellektuellen Wiederaufbau.


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