Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth
Exilanten aufzukommen - im Ernstfall wäre er dazu weder in der Lage gewesen noch hätten die meisten Ankömmlinge diese Art von individuellen Almosen gewollt.
Paul Kohner versammelte deshalb nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Filmkünstler aus dem deutschen Sprachraum um sich, Klienten wie Nicht-Klienten: Ernst Lubitsch, Billy Wilder und Henry Koster, Gottfried und Wolfgang Reinhardt, Charlotte und William Dieterle, Mia und Joe May, Salka und Berthold Viertel, Conrad Veidt und Walter Reisch, Fritzi Massary und Erich Charell. Gemeinsam gründeten sie Anfang Oktober 1939 den European Film Fund,73 eine gemeinnützige, also auch steuerbegünstigte Organisation, in deren Kasse die Spitzenverdiener unter den Emigranten monatlich einzahlten, um das Überleben der weniger Erfolgreichen zu ermöglichen - die wiederum, sobald sie Arbeit gefunden hatten, sich an dem Unterhalt der Nachfolgenden beteiligen sollten.74
»Die Neuankömmlinge zogen in kleine Bungalows und Appartements ein. Sie waren begierig darauf, mit der Arbeit zu beginnen, obwohl sie keine klare Vorstellung hatten, was man von ihnen erwartete«, schreibt Frederick Kohner in »Der Zauberer vom Sunset Boulevard«: »Hoffnungsvoll und arbeitseifrig erschienen sie im Büro meines Bruders und warteten dort in ihren dicken Anzügen, gestärkten Hemdkragen und wetterfesten Schuhen.«75
»Telefonlisten, Aktenvermerke - Kohner hat einfach alles aufgehoben. Wann ihn wer aufsuchte oder anrief, das kann man auf die Stunde genau feststellen«, sagt Gandert, der Filmbesessene, mit leuchtenden Augen: »Jeder seiner Schritte lässt sich verfolgen. Wir haben allein Briefe von mehr als einem halben Tausend Personen. Und über dreihundert Manuskripte, viele unbekannt und unveröffentlicht.«
Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne, und der abgedunkelte Lagerraum versinkt im Zwielicht. Gandert und ich schleppen die beiden Kartons von dem Tisch am Fenster zurück zu dem Regal im hinteren Teil der Halle und stellen sie an ihren Platz zwischen den anderen Umzugskisten.
Der Weg hinaus führt wieder vorbei an altertümlichen Maschinen, an Schränken mit Kostümen und Regalen, in denen silberne Filmrollen lagern. Neben ein paar bunten Torsi, über denen durchsichtige Plastikplanen wie Regenhäute hängen, bleibt Gandert abrupt stehen.
»In dem Nachlass findet sich unendlich viel über das Verlöschen der jüdischen Kultur in Deutschland und Osteuropa ...« Gedankenverloren rückt er seine Brille mit Goldrand zurecht und streicht dann über den verzerrten Kopf eines Puppentorso, bei dem es sich entweder um Asta Nielsen oder um Ringelnatz handeln soll. »Manchmal denke ich mit Wehmut darüber nach, dass ich längst auf dem Friedhof liegen werde, wenn in zahllosen wissenschaftlichen Arbeiten aus diesem Material zitiert wird ... Denn aus dem, was Kohner zusammengetragen hat, lässt sich eine exakte Landkarte des Exils zeichnen.«
Über den Innenhof hallt noch immer Rockmusik. Der blaue Transporter und die Männer, die ihn beladen haben, sind nicht mehr zu sehen. Die Maisonne scheint so warm und hell, als habe sie sich von Kalifornien hierher verirrt. Auf der zwanzigminütigen Fahrt von Spandau zurück in die City erzählt Gandert, der eifrige Landvermesser auf der Terra incognita des Exils, auf welchen Umwegen ihn sein Lebenslauf zur Filmgeschichte und damit zu dem Schatz vom Sunset Boulevard geführt hat.
Nachdem er seine Hitler-Jugend mit dem Abitur beendet hatte, versuchte er sich als Lokalreporter in Oldenburg und schrieb nebenher Zehn-Zeilen-Filmkritiken für die Hannoversche Abendpost, deren Chefredakteur damals, 1948, Henri Nannen war. In diesen ersten Nachkriegsjahren begann seine große Liebe zum Film, ohne die Gandert vermutlich der unauffällige Durchschnittsbürger geworden wäre, als der er auf den ersten Blick und von ganz weitem erscheint. So aber verlief sein Leben hektischer und abenteuerlicher. Während des Studiums in München, arbeitete er als Geiselgasteig-Reporter des Film-Echo. Später, in Berlin, spezialisierte er sich auf das Ostblock-Kino.
»Ich hatte sehr gute persönliche Kontakte zur DEFA, war dreimal bei den Karlsbader Filmfestspielen, über die ich für den NDR berichtete. Obendrein habe ich ein paar DDR-Zensurskandale aufgedeckt, immer unter meinem vollen Namen. Tja, 1958, nach Rückkehr von dem dritten Festival, haben sie mich dann in Ostberlin eingesperrt - als angeblichen Spion.«
Weil er einen Bericht über das Festival auch im Auftrag des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen abgefaßt und außerdem für den Spiegel in der DDR recherchiert hatte, ließen die SED-Bonzen Gandert wegen Spionage sowie »schwerer staatsgefährdender Propaganda und Hetze« zu drei Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilen - die Untersuchungshaft wurde »wegen hartnäckigen Leugnens« nicht angerechnet.
»Ein absurder stalinistischer Schauprozess. Als Öffentlichkeit fungierten dienstfreie Richter und Staatsanwälte«, sagt Gandert. »Drei Jahre weniger sechs Wochen habe ich dann in Potsdam und Brandenburg gesessen.«
Seiner Filmleidenschaft tat die Haft keinerlei Abbruch. In den siebziger Jahren, Gero Gandert war inzwischen Abteilungsleiter der Berliner Kinemathek, erwuchsen aus der jahrelangen intensiven Beschäftigung mit dem deutschen Stummfilmkino erste Kontakte mit Filmkünstlern, die vor Hitler nach Hollywood emigriert waren. dass er 1976 das einzige noch vorhandene Originalmanuskript zu »Doktor Caligari« entdeckte, dem international berühmtesten deutschen Stummfilm, brachte ihm eine Einladung zu einer Vortragstournee durch die USA ein. In Los Angeles traf er Curtis Bernhardt und John Pommer, Henry Koster, Billy Wilder - und Paul Kohner, der die Rechte an »Doktor Caligari« besaß.
»Von da an konzentrierte ich mich ganz auf Amerika. Ich habe mehrere Exil-Retrospektiven für die Berliner Filmfestspiele mitentwickelt, ich habe eine Ausstellung mit Plakaten der zwanziger Jahre gemacht, die nach New York ins Museum of Modern Art kam, auch nach Berkeley und ins Los Angeles County Museum. Das ergab jedes mal wieder eine Reise, auf der ich meine Kontakte pflegen konnte. Und eines Tages habe ich eben gesehen, da liegt dieser ungeheure Schatz im Keller, der langsam verderben würde, wenn man ihn nicht birgt. Behutsam habe ich angefangen, Paul Kohner davon zu überzeugen, dass wir ein seriöses Institut sind mit einem besonderen Interesse an dem Schicksal und der Arbeit von Emigranten und dass wir sein Archiv gerne für ein zukünftiges Berliner Filmmuseum übernehmen würden.«
Die Stiftung Deutsche Kinemathek residiert am Theodor-Heuß-Platz, direkt gegenüber dem britischen Naafi-Gebäude. Der Aufzug, mit dem wir in den vierten Stock fahren, knarrt so gefährlich, als sei seine Mechanik komplett aus morschen Balken gebaut. Das alte Haus riecht nach Linoleum, Bohnerwachs und dem Muff der fünfziger Jahre. Mein Cicerone geleitet mich durch die langen Gänge, die sich durch das Gebäude fressen. Er erzählt von der Arbeit an seinem »Handbuch des Films der Weimarer Republik«. Das zukünftige Standardwerk soll in vierzehn Teilen erscheinen, für jedes Jahr, das die erste deutsche Demokratie dauerte, ein Band; der letzte »Gandert« dürfte erst in den zwanziger Jahren des nächsten Jahrtausends fertig werden.
In den Amtsräumen, in die ich geführt werde, herrscht eine eigentümliche Mischung aus Ordnung und Chaos; eine bunte Tristesse aus Akten, Topfpflanzen und Plakaten, interessanten Büchern und langweiligen Formularen, die in wilden, wackligen Stapeln durcheinander liegen. Gero Gandert, den man schwerlich einmal antrifft, ohne dass er einen Wust Papiere und ein, zwei Ordner mit sich herumschleppt, fügt sich hier ein wie eine Blume ins monotone Wiesengrün. Seine kreative Nischenexistenz verkörpert dieses Westberliner Gemenge aus bürokratischem Verwaltungswillen und freiheitlichem Hang zur Unordnung.
Durch die offenen Fenster dringt ohrenbetäubender Verkehrslärm herauf. »So sehr ich die Öffnung der Mauer begrüße, weil Berlin verdammt provinziell geworden war«, spricht Gandert gegen das Getöse an, »ein Remake der vergangenen Größe wird es kaum geben. Denn das entscheidende Element fehlt. Ohne das liberale jüdische Bürgertum, das die Weimarer Republik geprägt hat, ist eine Neuauflage nicht möglich. Aber Berlin als Metropole, als eine der interessantesten Städte der Welt, das kann ich mir gut vorstellen.«
»Wird die Exil-Tradition noch die Identität stiftende Bedeutung haben können«, frage ich Gandert, »die sie, natürlich weitgehend beschränkt auf ihre parteikommunistischen Vertreter, für die DDR besaß? Und werden die Werke der linksliberalen, demokratischen Intelligenz, die vor Hitler in die USA emigrierte, weiterhin einen herausragenden Einfluss auf das kulturelle Leben eines vereinigten Deutschland ausüben, wie es seit den sechziger Jahren in der Bundesrepublik der Fall war?«