Fahrt und Fessel. Gustav Stratil-Sauer
Wien, das Tor zum Osten, betritt. In epischer Breite hebt nun der zweite Satz der Donausymphonie an. Geschwunden sind die breiten Bergrücken, die anmutigen Täler und saftigen Wiesen; an ihrer Statt dehnen sich fast unübersehbare Äcker, hinter denen man die Steppe wittert. Noch freut sich das Auge der sprießenden Saaten, aber schon kann der sonnglitzernde Sandboden vom Grün nicht mehr ganz zugedeckt werden. Noch weiden Rinder auf weiten Wiesen, aber schon scheint das Grün des Grases leicht angekränkelt, und das weiche Lila der Herbstzeitlose ist der Farblosigkeit trockener Disteln und Strohblumen gewichen. Ein kleiner Hain von Linden, Akazien und Eichen beschattet die Dörfer; aber wo ist der Wald, wo die Tannen und Fichten? Du hast sie in Wien gelassen.
An der Grenze riefen mich drei Soldaten in der alten österreichisch-ungarischen Uniform an. Als ich auf ihre Frage nach meinem Namen mit »német barátom« antwortete, schüttelten sie dem »deutschen Freunde« strahlend die Hand. Ein Deutscher ist schon an sich in Ungarn willkommen, spricht er aber gar einige Brocken Magyarisch, so wird er doppelt herzlich empfangen. Es gibt wohl kaum ein Volk, das seine kleine Sprache so liebt und alle Versuche Fremder, sie zu sprechen, so dankbar anerkennt und versteht wie die Magyaren. Kennt ein Fremder die Landessprache nicht, so findet man es in Deutschland störend, in Frankreich dumm, in England arrogant, in Ungarn aber natürlich. Müht sich ein Fremder, die Landessprache trotz geringer Kenntnisse zu sprechen, so findet man es in Deutschland komisch, in Frankreich peinlich, in England selbstverständlich, in Ungarn aber großartig.
Längs der ungarischen Straßen ziehen sich deutsche Kolonistensiedlungen hin. Nicht ein Volk, sondern einen Raum zu besiegen, waren die Kolonisten nach Osten gekommen; aber der Raum hatte sie besiegt. Wohl hielten die schwäbischen Bauern an der deutschen Form fest, aber die Raumfülle dehnte und lockerte das streng Geschlossene, so daß die engen Gäßchen zu breiten Straßen wurden, die, von baumbeschatteten Steigen begleitet, in unbeirrt geradem Zuge selbst Kirchen und Kapellen umfließen. Dann die letzte Stadt deutschen Gepräges: Raab.
Trotzdem hier schon fremde Laute das Ohr treffen, fühlt man sich doch heimisch zwischen Dom, Ring, Markt und Wall einer alten deutschen Stadt. Aber ärmliche, stocklose Giebelhäuser und ungefüge, halbmoderne Kolossalbauten im Zentrum bringen fremden Mißklang in den Akkord. Gerade in dieser Dissonanz seines Wesens zeigt Raab die Entwicklung Ungarns symbolhaft: das altansässige Magyarentum wurde an die Peripherie gedrängt, als das Deutsche, mächtig vorstoßend, Ungarn im Kern erfüllte. Nachdem aber der deutsche Gedanke in der Wiener Hofburg zum Habsburgischen umgeprägt war, opferte österreichische Hauspolitik den deutschen Städter der Magyarisierung. Während der schwäbische Bauer weiterhin zäh am Heimatlichen festhielt, konnten in alten deutschen Städten ungefüge Neubauten den Sieg des modernen Magyarentums verkünden.
Weiter ging es durch ein Land mit Weiden voller Schweineherden, mit Akazien und breiten Straßen, nach einem Höhenzug wieder deutsche Dörfer, durch deren reinliche Straßen die Dirnen, in langer Kette eingehakt, schlenderten und heimatliche Lieder in den Abend hinaus sangen.
Und dann rauscht der vollste und ausgeglichenste Akkord der Symphonie auf: Budapest. Vor zweihundert Jahren noch in den Händen Asiens am Rande der Welt stromnah und innerlich doch stromfern dahindämmernd, ist es jetzt das Herz des Donaulandes geworden. Seine Stellung als Hauptstadt verdankt es der zentralen Lage am Schnittpunkt natürlicher Verkehrsstraßen und am Übergang zwischen den zwei ungarischen Becken. Daß es aber zum Edeltyp einer modernen Hauptstadt werden konnte, verdankt das junge Budapest seiner glücklichen Geburtsstunde; denn die national frei gewordenen Magyaren konnten ihre Kräfte gerade zu jener Zeit in Pest konzentrieren, als sie gelernt hatten, die Durchdringungsmöglichkeiten des bevorzugten Raumes zu verwirklichen. So konnte diese Hauptstadt trotz ihrer Jugend ihre Länder umspannen und geistig beherrschen. Und da gleichzeitig auch die Technik den wildernden Strom und das Eiserne Tor bezwungen hatte, so daß die Schiffahrt bedeutend an Wert gewann, legte man die Pracht der Hauptstadt an den Strom selbst, den die Stadt als letzter Einheitsorganismus nach Osten zu beherrscht. Nicht Ring und Markt wie im donaufernen historischen Wien, nicht das Gedränge der Basargassen wie in den Siedlungen des Ostens, der Strom selbst, von sechs gertenschlanken Brücken überspannt, bildet das Zentrum der Stadt. Hier liegt auch ihr Hafen, wo am modernen Kai elektrische Kräne Tag und Nacht arbeiten, um die hunderterlei Waren in weiträumigen Magazinen zu verstauen. Als im vorigen Jahrhundert die Städtebauzeit begann, fand der architektonische Gedanke in Pest keinen historisch erstarrten Komplex vor, dem er sich anzupassen hatte, sondern freien Spielraum für seine wesensgemäße Entfaltung. Langsam die Donau hinabgleitend, traf er Pest am ehesten; und so ist hier der Stil der Bauten nicht der von vorgestern, den unser Verstand schon als historisch und unser Auge noch als geschmacklos empfindet, wie in den Donaustädten des Balkans, die heute noch im Jugendstile bauen; er ist auch nicht der tastend noch suchende wie im modernen Westen; er ist der uns gleichaltrige, eben abgeschlossene. Während die Städte stromabwärts noch an ihrem Ausbau arbeiten, hat Pest seinen Charakter bereits rein und voll ausgebildet. So steht die Stadt heute da wie eine schöne Frau in voller Reife.
Übrigens riet man mir hier aus Sicherheitsgründen so dringend von einer Motorradreise durch Rumänien ab, daß ich mich zur Dampferfahrt auf der Donau entschloß. Zwar war die Personenbeförderung so spät im Jahr bereits eingestellt, doch vermittelte mir die deutsche Gesandtschaft einen Platz auf einem Schleppdampfer, der acht Frachtkähne talwärts zu ziehen hatte. Die Tage bis zur Abfahrt nutzte ich durch einen Abstecher zum Plattensee, dem ungarischen Meere. Steil schon hat sich der Bogen zum Orient gewölbt; denn zum ersten Male erlebt man hier das Wunder der Farbe, wenn auch nicht an nacktem Gestein, sondern am Wasser: vom schweren Violett der Morgendämmerung über den tiefen Purpur bei Sonnenaufgang und das gleißende Gold zur Mittagszeit steigert sich die Kraft und Fülle der Farben bis zur Stunde der sinkenden Sonne, wo die letzten Strahlen sich in der von feinem Staub erfüllten Luft wie in einem Prisma zu breitem bunten Bande brechen.
Zwischen Scylla und Charybdis von scheuenden Pferden und Straßengraben kam das Motorrad hier zum ersten Male stark zu Schaden, so daß eine traurige Eisenbahnfahrt den Abstecher beschloß. In der Reparaturwerkstatt in Budapest versprach man mir, das Rad sofort nach Fertigstellung mit der Bahn nach Warna zu schicken, so daß ich es bei meiner Ankunft schon vorfinden sollte. Warten konnte ich leider nicht darauf, da wir einen Tag später unsere Donaufahrt begannen. Schnell hatten wir uns angefreundet: der Kapitän, im Stromdienst ergraut, ein sonniger Süddeutscher als sein Stellvertreter, ein junger Rheinländer, der mit Lyrik und Gottvertrauen eine Fußreise von Konstantinopel nach Indien machen wollte, und ich.
In langausgesponnener, ungeheurer Einförmigkeit rauscht der zweite Satz der Symphonie schleppend zu Ende. Spröde und zurückhaltend in ihren Offenbarungen, findet diese Landschaft ihre stärkste Abwehr in der Langweile, die sie einflößen kann. Nur dem erschließt sie ihre tiefe Lyrik, der sie in versonnener Muße zu genießen versteht: mit Geduld für den Morgen, wenn schwere Herbstnebel das Schiff lange vor Anker halten, mit Hingabe für den Tag, wenn die Landschaft in breiten Wiederholungen vorübergleitet wie die Bilder eines Filmbandes, das man zwischen den Händen aufrollt, mit Humor für den Abend, wenn der Kapitän seine gewürzten Geschichten erzählt, und mit Poesie für die Nacht, wenn die Ufer schwarz verhüllt und schweigend schlafen und nur die Wellen leis rauschend die Ankerkette umspielen. Zwei Motive modulieren die Landschaft: das erste zeigt rechts ein Steilufer von meist regenzerfurchtem Löß, das jeden Fernblick verwehrt, und links die endlos gebreiteten Ebenheiten Ungarns mit ihren einsamen Herden, knorrigen Ziehbrunnen und zerfallenen Pußtahütten; öfter aber schließt ein dichter, lianendurchflochtener Urwald die Ebene vom Strome ab. Im anderen Motiv liegt der Mantel dunkler Auenwälder zu beiden Seiten der Donau gebreitet. Im dichten Gitter des Grüns verbirgt sich dort ein Wild, das noch kein Jäger gejagt, tote Wasser schlafen zwischen den hundert Inseln, wo noch kein Fischer seine Netze gespannt; nur der Adler ist Herr dieser Landschaft. Er sammelt sich zu Dutzenden auf den weißen Kiesbänken, reckt seine mächtigen Schwingen und sonnt sich. Hinter der Festung Erdut, der ersten türkischen Ruine, tauchen als Ausklänge des deutschen Themas die Dörfer der Banater Schwaben auf, mit breiten Straßenzeilen schon ganz der Raumfülle angeglichen, doch im Kranze fleißig kultivierter Weinberge, Mais und Hopfenfelder seltsam von der grauen Heide rings abstechend. Mit ihnen wechseln die schachbrettartig angelegten magyarischen Dörfer, steingefügte Zeltlager von seßhaft gewordenen Nomaden. Die Städte schwingen als unentschieden gesetzte Akkorde zwischen den beiden