Handbuch Anti-Aging und Prävention. Rüdiger Schmitt-Homm
„Erfindung“ eines Zentralnervensystems und vor allem des Gehirns im Zuge der Evolution beruht deshalb auf dem wichtigen Phänomen, dass Nervenzellen sich nicht teilen beziehungsweise nicht immer wieder durch neue ersetzt werden – bis auf stark begrenzte Ausnahmen.
Auch beim Menschen verursacht jede Lernerfahrung im Gehirn eine spezifische Spur. Unsere Erinnerungen sind nicht in einer bestimmten Nervenzelle, sondern in unendlich komplexen Vernetzungssystemen im Gehirn gespeichert und dynamischen Anpassungen unterworfen. Um Lern- und Gedächtniserfahrungen möglichst lange zu bewahren, ist das System der vollständigen Zellneubildung deshalb ungeeignet. Wichtiger ist es, die vorhandenen Zellen, ihre Querverbindungen und die chemischen Übertragungswege durch optimalen Schutz möglichst lange zu erhalten.
Man könnte vielleicht sagen, der Preis für unsere Fähigkeit zu lernen, zu erinnern und uns in Zeit und Raum als Individuen zu definieren, ist der Verlust der Unsterblichkeit.
Warum Fliegen nie an Krebs leiden
Die exakte Nachbildung von Körperzellen ist speziell für hoch entwickelte Lebewesen ein äußerst komplizierter Prozess. Jeder noch so winzige Fehler kann fatale Folgen haben. Ein klassisches Beispiel sind Fehler in der Zellsteuerung. Die Folge: Krebs.
Unsere soeben angesprochenen ramponierten Stubenfliegen können Schäden an ihrer Außenhülle nicht mehr reparieren, weil sich ihre Zellen nicht teilen und somit nicht erneuern können. Das führt unweigerlich und sehr schnell zu immer größerer Anhäufung von Schäden. Aber weil sich eben keine Zellen teilen, bekommen Insekten niemals Krebs. Wir Menschen können wie andere Säuger viele Zellen erneuern. Dafür teilen wir mit ihnen das Schicksal, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben, sobald der Vorgang der Zellteilung durch Umwelteinflüsse und vor allem Alterungsprozesse anfällig geworden ist.
Alt werden, ohne zu altern
Wenn wir schon nicht unsterblich sein und ewig leben können – und vielleicht wäre das auch aus mancherlei Gründen gar nicht wünschenswert –, ließe sich dann nicht zumindest unser Alterungsprozess verzögern und die Jugendlichkeit länger erhalten?
„Es gibt Millionen von Menschen, die sich nach Unsterblichkeit sehnen, die aber nicht wissen, was sie an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen sollen.”
MAURICE CHEVALIER [französischer Entertainer, 1888–1972]
Tatsächlich ist in der Natur das Phänomen der Seneszenz, also das, was man gemeinhin unter gebrechlichem und defizitärem Altern versteht, nicht überall vorzufinden. Das heißt, auch wenn sich bei einer Art aufgrund verschiedenster Faktoren ab einem bestimmten Alter die Sterbewahrscheinlichkeit erhöht, müssen sich damit nicht unbedingt in gleichem Maße Alterserscheinungen einstellen.
Vögel sind im Vergleich zu anderen Tieren mit ähnlicher Körpermasse und ähnlichem Stoffwechselumsatz nicht nur auffallend langlebig, sondern auch ganz ungewöhnlich lange leistungsfähig. Auch Fledermäuse altern viel langsamer als die am Boden lebenden Mäuse, obwohl sie im Hinblick auf ihre Größe und ihren Stoffwechsel absolut vergleichbar sind. Weibchen des Eissturmvogels ziehen auch im Alter von 40 Jahren noch Junge auf und zeigen keinerlei Altersdefizite. Überträgt man die vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten der Alterung von Säugetieren oder aber von uns Menschen auf diese Tiere, müssten Eissturmvögel im Alter von 40 Jahren ihre Fortpflanzungsfähigkeit längst verloren haben und eine ganze Reihe von Degenerationserscheinungen aufweisen.
Wenn die Alterung zu stoppen scheint
Andere Tierarten zeigen sogar ab einem gewissen Alter einen so starken Rückgang ihrer Sterbewahrscheinlichkeit, dass die Mortalität nicht mehr messbar ist. Mit anderen Worten, je älter diese Tiere werden, desto weniger sterblich scheinen sie zu sein. Hummer zum Beispiel wachsen mit zunehmendem Alter stetig weiter, ohne dass man je ein Absinken ihrer Fortpflanzungsfähigkeit, geschweige denn ihres Wachstums finden konnte. Caleb Finch, Professor für Gerontologie und Biowissenschaft an der Universität Kalifornien erforscht dieses Mysterium. Er fand heraus, dass es in der Natur viel verbreiteter ist, als bisher angenommen. Er bezeichnet das Phänomen als „vernachlässigbare Seneszenz“.
Solche Erscheinungen, die unsere Vorstellungen über die Alterung gehörig durcheinanderbringen, sind nicht neu. Schon vor mehr als 100 Jahren hat der in Frankfurt am Main geborene Zoologe August Weismann festgestellt: „Es ist überhaupt nicht zu vergessen, dass dem Tode durchaus nicht immer eine Involutions-, eine Altersperiode vorangeht.“ Er war schon damals überzeugt, dass der Alterungsprozess keine Notwendigkeit des Lebens sei.
„Altern ist eine späte Zugabe der Evolution.”
AUGUST WEISMANN [deutscher Zoologe, 1834–1914]
Bringt Altern Vorteile?
Wir gehören offensichtlich nicht zu einer der von der Natur so beneidenswert ausgestatteten Arten ohne Alterung. Beim Menschen und den meisten mit uns näher verwandten Säugetieren treten Alterserscheinungen unübersehbar auf. Unterschiedlich stark zwar, aber sie sind eher die Regel als die Ausnahme.
Warum hat die Natur für uns Alterung vorgesehen, wenn es offensichtlich auch ohne sie geht? Bringt uns Seneszenz vielleicht irgendwelche Vorteile? Leider nicht. Die Ursache für unser gebrechliches Altern ist nach allem, was wir heute wissen, geradezu erschreckend banal. Es gibt unter den Evolutionsbiologen zum Phänomen der Seneszenz zwar leicht unterschiedliche Begründungsansätze, doch letztendlich lassen sie sich alle auf einen Kernsatz bringen:
Die Evolution erfand die Alterung weniger, weil sie für die betroffenen Arten von Lebewesen notwendig oder gar nützlich wäre, sondern vor allem, weil sie ihnen nicht schadet. Eine ebenso überraschende wie ernüchternde Erkenntnis. Wie ist sie zu verstehen?
Seneszenz – Alt werden beim Altwerden
Altern scheint für uns Menschen vor allem mit Verlust und Degeneration verbunden zu sein. Die Mehrzahl der heutigen Gerontologen würde bei einer solchen Sichtweise allerdings protestieren. Schon seit einiger Zeit bemühen sie sich, die alte verwurzelte Sichtweise vom Abbau als einzigem Aspekt des Alters zu korrigieren. Mit großer Vehemenz wird heute der „Defizithypothese der Alterung” widersprochen.
Und die Kritiker haben nicht unrecht. Ohne Zweifel werden Aufbauprozesse, Chancen und andere positive Aspekte des Alters häufig vergessen oder missachtet. (Wer das Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch Successful Aging von Rowe und Kahn empfohlen; siehe Literaturverzeichnis.) Innerhalb des Lebens auf der Erde ist Altersabbau beziehungsweise Seneszenz keine unausweichliche Begleiterscheinung des Alters. Wir haben das bereits angeschnitten. Andererseits aber ist nicht zu bestreiten, dass Abbau eine sehr typische Erscheinung dessen ist, was wir Menschen gemeinhin unter Alterung verstehen und erleben – zumindest aus biologischer Sicht.
Das Geheimnis der Hundertjährigen
Als ein Argument gegen die Defizithypothese wird heute die erfreulicherweise zunehmende Zahl an gesunden, aktiven Hundertjährigen angeführt. Und tatsächlich können uns gerade die erfolgreich und relativ gesund gealterten Hundertjährigen etwas über den Alterungsprozess aufzeigen. Allerdings anders, als vielleicht erwartet.
Beim Menschen reduzieren sich im Verlauf des chronologischen Alterns praktisch alle Körperfunktionen. Personen, die sehr alt werden, 100 Jahre oder noch älter, bilden in dieser Hinsicht eigentlich keine Ausnahme. Die meisten biologischen Marker verändern sich bei ihnen vergleichbar, bis auf eine Besonderheit: Es fehlen extreme Entwicklungen in einzelnen Funktionsbereichen. Bei ihnen sind einzelne „schwache Glieder“ im biologischen System, die frühzeitigen Diabetes, Parkinson und andere typische Altersleiden begünstigen können, seltener. Hundertjährige sind in erster Linie sehr gleichmäßig gealtert.
Warum die Natur sich Altern leisten kann
Antagonistische Pleiotropie