Dolmetschen als Dienst am Menschen. Группа авторов
lässt sich mit Mason (2015) eine dreifache Differenzierung von Machtverhältnissen beim Dolmetschen vornehmen, die für das im Folgenden präsentierte Fallbeispiel unmittelbar relevant ist. Mason spricht zum einen ‒ mit Bezug auf Anderson ‒ die interaktionelle Macht an, die es der DolmetscherIn erlaubt, gesprächssteuernd zu agieren, und erwähnt zum Beispiel die Sprecherwechselkoordination, zusammenfassende oder eigenständige Gesprächsbeiträge (summarizing bzw. non-renditions bei Wadensjö 1998) sowie ein Auftreten als „co-interlocutor“, bei dem die DolmetscherIn die Interaktionsrolle der befugten InstitutionsvertreterIn übernimmt. Hier klingt schon die zweite, übergeordnete Ebene der institutionellen Machtverhältnisse an. Mason (2015:315) ruft abgesehen vom vorgegebenen Machtgefälle zwischen den Beteiligten („immigration officials have more power than asylum seekers“) vor allem die Geringschätzung von DolmetscherInnen als Hilfsorganen von Behörden in Erinnerung, wie sie auch Kadrić (2009) thematisiert und durch ihre emanzipatorische Didaktik auf der Grundlage des Theaters der Unterdrückten im Sinne einer emanzipatorischen Praxis zu überwinden sucht (Kadrić 2011).
Als dritte Bezugsebene nennt Mason das soziolinguistische Machtverhältnis zwischen den beteiligten Sprachen und scheint schon zum gegenständlichen Fallbeispiel überzuleiten, wenn er anführt, dass etwa afrikanische Sprachvarietäten und Diskursmuster im europäischen Kontext wenig Gehör finden: „persons using African styles of speech and writing lose their ‚voice‘ (that is, their ability to make themselves heard and be taken seriously) when translated into powerful European languages and settings.“ Vor eben diesem Hintergrund forderte Barsky (1994), dass DolmetscherInnen im Asylverfahren zugunsten der im System benachteiligten Seite aktiv eingreifen und als „intercultural agents“ fungieren sollten, anstatt sich auf eine mechanisch-neutrale Rolle als „innocuous translating devices“ zu beschränken. Im folgenden Fallbeispiel werden die hier angesprochenen Konzepte und Positionen zu Macht und Rolle in Erscheinung treten und eine Diskussion darüber ermöglichen, welchen Einfluss die DolmetscherIn auf das Interaktionsgeschehen nehmen kann.
3 Fallbeispiel Asylanhörung
Das Corpus von authentischen zweitinstanzlichen Asylanhörungen, dem das Fallbeispiel entnommen wurde, stammt noch aus der Zeit der Vorläuferinstitution des 2008 eingerichteten Asylgerichtshofs bzw. (ab 2014) Bundesverwaltungsgerichts. Am sogenannten Unabhängigen Bundesasylsenat wurden insgesamt 14 Asylanhörungen mit Englisch sprechenden afrikanischen AsylwerberInnen aufgenommen, an denen fünf verschiedene EntscheiderInnen und sieben verschiedene DolmetscherInnen beteiligt waren (Pöchhacker & Kolb 2009).
An der gegenständlichen Berufungsverhandlung, die im August 2006 aufgenommen wurde, sind eine verhandlungsleitende Beamtin (VL), die promoviert ist und über Schulenglischkenntnisse verfügt, eine universitär ausgebildete (Mag. phil.) und allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin (D), ein nigerianischer Berufungswerber (BW) sowie eine Schreibkraft (SK) beteiligt (Abb. 1).
Interaktionskonstellation
Zur institutionellen Ebene ist zu sagen, dass die Bestellung von DolmetscherInnen direkt durch die betreffenden BeamtInnen erfolgt. Da D Erfahrung mit der Arbeit bei Asylanhörungen hat, ist davon auszugehen, dass sie von VL wiederbestellt wurde und nicht nur eine gewisse Vertrautheit, sondern auch Zufriedenheit mit ihrer Arbeitsweise besteht.
Die Verhandlung läuft über mehr als drei Stunden (ohne Pause) und weist die typischen Strukturmerkmale einer (dolmetschervermittelten) Asylanhörung auf: Aufnahme der Daten, persönliche Hintergründe, Angabe der Fluchtgründe und Schilderung der Fluchtgeschichte, Befragung zu Fluchtgründen und -geschichte, Rückübersetzung des Protokolls. Die Schilderung der Fluchtgründe setzt nach ca. 25 Minuten ein und dauert ebenso lange. Noch bedeutend länger dauert die Befragung, in der VL die Fluchtgründe von BW auf ihre Glaubwürdigkeit prüft. Diese Phase nimmt mehr als die gesamte zweite Verhandlungsstunde in Anspruch. Rund 70 Minuten ist VL damit beschäftigt, die Plausibilitätsmängel abzuklären, die im erstinstanzlichen Verfahren zu einem negativen Asylbescheid geführt haben, während BW trachtet, seine Fluchtgründe so überzeugend wie möglich zu schildern. Theoretisch könnte dies einen kooperativen Ansatz bedingen, in dem beide Parteien gemeinsam um die Wahrheitsfindung bemüht sind. In der Praxis ist vor dem Hintergrund der hohen Ablehnungsrate nigerianischer AsylwerberInnen davon auszugehen, dass die Interaktionsziele konträr sind und VL darauf abzielt, in dem bemühten Vorbringen von BW Widersprüche zu entdecken und zu protokollieren.
In dieser Protokollierung spielt D eine unerwartet aktive Rolle. Wie an anderer Stelle ausführlich beschrieben (Pöchhacker & Kolb 2009), beschränken sich die DolmetscherInnen in den untersuchten Berufungsverhandlungen meist nicht auf das Wiedergeben der mündlichen Äußerungen, sondern sind bemüht, den Schreibkräften ein tippfertiges Diktat zu liefern. Der erste Transkriptausschnitt (Ex. 1), in dem BW sehr aufgeregt schildert, wie ihm von einem gewaltsamen Übergriff gegen seine Gefolgsleute berichtet wird, veranschaulicht diese Praxis der protokollreifen Wiedergabe, bei der von D auch syntaktische Umstellungen sowie Ergänzungen („sehr“, „denn“) vorgenommen werden.
Zu den im Weiteren verwendeten Transkriptionskonventionen: ein Bindestrich (-) markiert den Abbruch einer Äußerung; überlappende (gleichzeitige) Äußerungen sind durch parallele Unterstreichungen gekennzeichnet; Unverständliches wird durch leere eckige Klammern angezeigt; das Schwa-Laut-Zeichen (ə) steht für hörbares Zögern; Punkte zeigen ungefüllte Pausen (.. = 1 Sek.); kleine Kreise (◦◦) stehen für Tastaturgeräusche von SK, die in Sprechpausen zu hören sind (◦◦ = 1 Sek.).
Ex. 1 (19:21‒19:46)
1 | BW | So when he rushed to me I I- when he rushed to the office I w- I was sur- surprised a- what happened? What happened? He said- |
2 | D | Ich war sehr überrascht, ◦◦ als er hereingestürmt kam ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ und fragte ◦◦ ◦◦ ◦◦ Doppelpunkt, Anführungszeichen ◦◦ ◦◦ Was ist denn passiert? Was ist passiert? |
Das in Extrakt 1 veranschaulichte aktive Formulierungshandeln von D gewinnt in der Phase der Glaubwürdigkeitsprüfung besondere Brisanz. Extrakt 2 zeigt deren Beginn und Gegenstand: BW gibt an, als christlicher Prediger tätig zu sein und deshalb in Nigeria von Muslimen bedroht und verfolgt worden zu sein. VL überprüft dies durch eine Wissensfrage nach christlichen Festen.
Ex. 2 (53:25‒54:16)
1 | VL | Können Sie mir einige christliche Feste nennen? |
2 | D | Would you- Could you tell us about some Christian feasts? What kind of feasts do you have in Christianity? |
3 | BW | Yeah, əm what is the[ ]s Christian we[ ] been trained for gospels. ə Like I might tell you ə I have some some some work that I have |
4 | D | Wir wurden selbst ○○ ○○ |
5 | BW | some work that I do do here ○○ ○○ |
(…) | ||
10 | D | So but- Wait! But you said you do this work here? |
Obwohl D die Frage von VL wiederholt und paraphrasiert (2), wird sie von BW offensichtlich