Frau - Männin - Menschin. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

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jedes Erstgeborene gleich nach der Geburt tötete und stattdessen ein Schwein aufzog, das dann seinerseits kultisch geschlachtet und verzehrt wurde. In beiden Fällen sind es weniger die Opferpriester, die den schrecklichen Ritus vollziehen, sondern meist die eigenen Mütter – im Namen der großen Göttin, die keine weiteren Geburten gibt, wenn sie sich nicht auch am Lebendigen sättigt. Wenn diese Geschichten zu abseitig anmuten: Die Überlieferung kennt im Nibelungenlied die schöne Königin Krimhild, welche ihre beiden Söhne eigenhändig ermordet und das Blut in den Hirnschalen dem Vater Attila zum Trank reicht – auch die ältere Medea aus Kolchis vollzieht diese Rache. Und in der Grimmschen Sammlung steht das eine unsägliche Märchen vom „Machandelboom“, unter dem die Knöchlein eines Mädchens klagen: „Meine Mutter, die mich slug . . .“

      Diese Märchen, Mythen, Kulte folgen der Spur der Großen Bösen Frau, wie sie sich bis heute in der schwarzen Göttin Kali in Indien verkörpert, die, auf dem Leichnam ihres Gatten stehend, seine Eingeweide frisst: Hier wird die Macht des Tödlichen angebetet, jene Herrin-Mutter, deren Souveränität darin besteht zu töten, ohne sich zu rechtfertigen. Wird der Wagen mit der thronenden Göttin durch die Straßen gezogen, so werfen sich bis zum heutigen Tage Gläubige vor die schweren Räder, um zermalmt zu werden. Welcher Abgrund meldet hier seinen Anspruch? Das Märchen verlagert die Ahnung davon auf die Stiefmutter, die Schneewittchen Böses antut, die Hänsel und Gretel zum Verlorengehen in den Wald schickt. Psychologisch gesehen lebt die Stiefmutter in der Mutter selber. Erich Neumann, der Schüler Jungs, will in der weiblichen Psyche ein Viertel diesem Dunkel zuordnen, ein Viertel sei unentschieden, die Hälfte hell und gütig.33 Ob diese Vierteilung stimmt, sei dahingestellt; unleugbar scheint ein autonomer Bereich im Mütterlichen, der über Leben und Tod des Kindes bestimmen kann.

      Freilich ist hier noch eine Klärung – auch von Neumanns These – zu vollziehen. Das Gesagte ist gültig im Bereich der überwiegend animalischen oder biologischen Mutterschaft. Sie nimmt das Kind als Besitz und vermag es deswegen zu vernichten, fast neutral. Mutterschaft umfasst aber mehr als Biologie und einige Urinstinkte des Habens, mehr als das Muttertier. Aber in der antlitzlosen Göttin meldet noch das unpersönliche und deswegen schauerliche Dunkel der numinosen Selbstherrlichkeit seinen Anspruch an. Diese Ambivalenz – noch einmal sei es gesagt – des Muttertieres zeigt sich in vielen Preisungen, die zugleich Bannung sind – ebenso wie das Opfer für die Muttergöttin Bannung ist: „Du in Gestalt der Leere, im Gewand des Dunkels, wer bist du, Mutter, die allein du thronst im Schreine von Samadhi? Vom Lotos deiner furchtzerstreuenden Füße zückt der Liebe Blitz. Dein Geistgesicht strahlt auf, es schallt dein Lachen fürchterlich und gellend.“34

      Das Bewusstsein dieser Ambivalenz ist durchaus notwendig, um nicht einer geschichtswidrigen Romantik der Muttergöttin aus den Bedürfnissen einer späten Zeit anheimzufallen.35 Dass sie noch andere Züge aufweist, wird anschließend deutlich. Deutlich ist aber auch, dass der Bannkreis des mütterlichen Kollektivs in der geschichtlichen Entwicklung – gerade wegen seiner Macht – eingegrenzt, wenn auch nie ganz ungültig wird. Je länger, je mehr wird er sogar durchbrochen – freilich von Schuldgefühlen begleitet, was immer einen Rest alter Gültigkeit verrät. Religionsgeschichtlich entspricht dem die langsame Verdrängung der Muttergottheiten durch die Vatergottheiten, die als Garanten gesetzgebender, staatsbildender, ethischer Ordnung angesehen wurden.36

      Zeus wird zwar in kretischen Höhlen geboren und von einer nährenden Ziege (!) aufgezogen, dann aber auf dem Berg Olymp angebetet. Weit schrecklicher wird diese Abnabelung in der griechischen Mythologie mit dem schuldhaften, aber „notwendigen“ Muttermord des Orest thematisiert. Initiationsriten – um es so pauschal zu formulieren – bedeuten den forcierten Wechsel in der Pubertät, weg von der mütterlichen Obhut in die Welt des Erwachsenen, bezeichnenderweise von Prüfungen und Schulderfahrungen begleitet, die freilich die Gruppe mitträgt, kontrollierend auslöst und beendet. (Was nicht heißt, dass nicht der Erwachsene unter neue kollektive Bindungen gerät.)

      Auch Judentum und Christentum fordern ein Verlassen des „Wir“ zum konzentrierten „Ich“, durch die Ernennung zum „mündigen“ Gemeindemitglied in der Bar Mizwah und im Sakrament der Firmung, etwa im Krisenalter von 14 Jahren. Ida Friederike Görres hat den ungeheuren Kraftakt des Aussteigens aus dem Clandenken und der Blutsbindung der Sippe für die germanische Königin Radegundis gezeigt, die die geforderte Blutrache verweigert und in ein Kloster flieht.37

      Mit solchen Daseinsentwürfen ist bereits der Eintritt in eine andere Wertigkeit vollzogen. Damit werden bisherige Gültigkeiten umgeformt; das Geschlechterverhältnis differenziert sich neu.

      3. Die Frau als Rätsel, Drohung, Verheißung: Die mythische Struktur

      Im Mythischen vollzieht sich „Aufwachen“ zum größeren Eigenstand: ein Bewusstwerden der Seele gegenüber der erfahrbaren Welt, eine Entfaltung des Innen ergänzend zum Außen. Fast jeder Mythos enthält eine Erhellung, worin dieses Standfassen im Innen im Gleichklang zum Außen deutlich wird. In ein Bild gefasst sind es zwei Hälften, die, obgleich unterschieden, doch zueinander gehören – nicht nur Seele und Himmel (wie in dem schon zitierten Wort Platons38), sondern auch in den polaren Entsprechungen Himmel – Erde, Sonne – Unterwelt, Olymp – Hades; in der Architektur: Höhle/Gewölbe – lichte Säulenreihe, wie beides im griechischen Tempel erscheint. Der doppelköpfige Gott Janus fasst in den beiden Gesichtern von Greis und Kind sichtbar Vergangenheit und Zukunft zur Einheit zusammen. Mythisch ist das Bewusstwerden unterschiedlicher Zeitabläufe, die dennoch aus der Einheit einer einzigen gegenwärtigen Zeit stammen.

      Symbol dieser Struktur ist der Kreis, der alle Erscheinungen ausgleichend und ergänzend ineinander bindet: Ende und Anfang gehen ineinander über, das „Rad des Lebens“ kehrt rhythmisch an den Ausgang zurück. Schon das Wort Mythos selbst lässt sich polar bestimmen: die Silbe my- kann sowohl aus myein = schweigen als auch aus mythesthai = reden abgeleitet werden. Denn Schweigen und Reden ergänzen sich, ebenso wie nicht nur das Gesagte entscheidend ist, sondern auch das im Gesagten Verschwiegene. Ein berühmtes Beispiel findet sich in der Pythia von Delphi: In ihren Orakeln läuft ein untergründiger Sinn mit, der vom Hörer nicht unbedingt in seiner gegenläufigen Meinung verstanden wird. „Wenn du diesen Fluss überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“: Xerxes handelt nach der Weisung in eindeutiger Auslegung, zerstört aber sein eigenes Reich – und der Fehler war, die doppelsinnige Bedeutung nicht mitgehört zu haben.

      Ähnliches findet sich in dem erstaunlichen „Gegensinn der Urworte“, die nur aus dem Kontext ihrer Doppelbödigkeit zu entkleiden sind, ohne dass ihre Gegenläufigkeit letztlich zu entschärfen wäre. Hierzu gehören die Wörter sacrum (heilig – verflucht), altum (hoch – tief), malummelius (schlecht – besser); im Deutschen die Wörter all (alles – nichts, wie noch im Dialekt erhalten: etwas ist „all“) oder weg (Weg auf ein Ziel zu – weg von). Solche Urwörter sprechen in einem einzigen Ausdruck die Polarität oder Zwei-Wertigkeit der mythischen Weltsicht aus. Gegensinn gilt auch für Symbole: So kann die Schlange für Tod und Leben stehen (im Paradies vertritt sie den Teufel, in der erhöhten Schlange in der Wüste das Leben); das Wasser ist ebenso tragend wie verschlingend und daher wiederum Ausdruck für Leben oder Tod.

      Im Übrigen ist die Mythendeutung weithin mit der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt.39 Fahrten und Abenteuer der Seele spielen sich nicht nur im Innen des Traumes, sondern für eine ältere Zeit in den Fahrten und Abenteuern der Außenwelt, in den Quests oder Aventuren der Helden ab. „Einsamer, an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln“40, formuliert Nietzsche die bestürzende Entsprechung von innerem und äußerem Geschick. Grundsätzlich gilt: Was immer in der Natur, am Himmel, im Ablauf der Jahreszeiten äußerlich sichtbar geschieht, entspricht dem unsichtbaren Auf und Ab der eigenen Seele. „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ sind die späte, kantische Fassung einer längst mythisch angelegten Weltauslegung, die immer eine Selbstauslegung mitmeint, nicht zuletzt in Form der heute aus vielen Gründen sinnlos gewordenen Astrologie. Mythisch spricht sie nichts anderes aus als das Gesetz der Korrespondenz, der Übertragung, der Ähnlichkeit von Oben und Unten. Ein besonders einleuchtendes


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